Drachenfische waren finstere Wesen, von grausigem Äußeren, mit furchterregenden Zahnreihen und einem Giftstachel auf dem Rücken. Vor ihnen hatten selbst die Haie Respekt. Da sie Unruhestifter waren, die die anderen Bewohner des Ozeans bedrohten und tyrannisierten, waren sie von den Meerkönigen in ein finsteres Reich in den abgelegenen Teilen der Tiefsee verbannt worden.
Trotzdem kam es immer wieder zu Aufständen, so dass die Meerkönige die Grenzen sichern mussten und deshalb eine Armee aus Haien rekrutierten, die in den Außenbereichen des Landes patrouillierten. Aber auch die Haie wurden mit der Zeit unzufrieden, denn ihre Aufgabe war anstrengend und gefährlich und trennte sie die längste Zeit des Jahres von ihren Familien. Und irgendwann hatte einer dieser Haie den Drachenfischen das streng gehütete Geheimnis der Meermenschen, das ihre Macht begründete, verraten. Wer diese Macht brechen wollte, musste den Meerkönig entführen.
Jason konnte die Geschichte nicht oft genug hören. Sie berührte ihn, nahm ihn mit in eine fremde Unterwasser-Welt, die alleine ihm und Aldiana gehörte, die er schon bald insgeheim nur noch ‚sein Meermädchen‘ nannte. Bestimmt wusste Aldiana, dass er heute aufs Meer fuhr, bestimmt würde sie sich ihm zeigen, bestimmt wollte sie den Jungen, der heimlich in sie verliebt war, kennenlernen. Wenn er sie also treffen wollte, musste er die Schwimmweste wohl oder übel in Kauf nehmen. „Nah siehst du, ist doch gar nicht so schlimm“, meinte sein Opa aufmunternd, als er Jason die Weste anlegte. Und den Fischen ist es sowieso egal, wie du aussiehst“, lachte er. Pah, dachte Jason, du hast ja schon Oma; du willst heute nicht das Mädchen aller Mädchen treffen. Er musste irgendeinen Weg finden, sich von dem blöden Gummiding zu befreien, wenn Aldiana neben dem Boot auftauchte, ohne dass Opa es bemerkte. Würde sein Großvater Aldiana wohl sehen können, fragte er sich oder zeigten sich die Wasserwesen nur Kindern?
Jason liebte die Sommerferien bei seinen Großeltern, denn er konnte hier selbstständiger unterwegs sein, als im großen London, wo er mit seinen Eltern wohnte. Seine Großeltern lebten außerhalb von Poole, in dem idyllischen Dorf St. Johns. Es lag direkt an der Küste und besaß einen eigenen Bootsanlegeplatz für die Dorfbewohner.
Jason und Liam machten sich auf den Weg. Sie ließen die Häuser des Örtchens hinter sich und gingen nun durch ein kleines Heidegebiet mit Blick auf die eindrucksvollen Felsformationen, die sich am Strand und im Meer ausdehnten. Man konnte weit über die flache Bucht mit ihren vielen kleinen Inseln blicken. Ein Großteil der Küste war wegen seiner außer gewöhnlichen geologischen Formationen zum Weltnaturerbe der UNESCO erklärt worden, doch das interessierte Jason nicht besonders. Er fragte sich vielmehr, auf welchem dieser Felsen sich Aldiana wohl sonnte, wenn sie an Land kam. Während er noch darüber grübelte, hatten sie bereits das Boot erreicht. Selbst Jasons kleine Beine konnten den kurzen Weg zwischen Haus und Anlegeplatz in wenigen Minuten zurücklegen.
„Bereit, Matrose?“, fragte sein Großvater. „Dann ab mit dir an Bord.“ Das ließ sich Jason nicht zweimal sagen. Geschickt balancierte er über den schmalen, geländefreien Bootssteg an Deck. „Ein echter Seemann“, hörte er seinen Opa hinter sich. Aus seiner Stimme klang Anerkennung. Jason strahlte; er war stolz auf sich. Beim Anblick des schmalen Stegs war ihm dann doch ein wenig mulmig geworden.
Liam verstaute den Picknickkorb sicher in der Kajüte, ermahnte Jason, während der Fahrt ruhig sitzen zu bleiben, dann warf er den Motor an. Er löste die Taue am Anlegeplatz und fuhr hinaus aufs Meer. Jason jauchzte; der Fahrtwind zerzauste seine Haare. Vorsichtig versuchte er, direkt über die Reling ins Wasser zu blicken, doch er konnte nichts sehen, denn wenn er saß, war die Bordwand noch zu hoch für ihn. Er sah nur die Heckwelle, die hinter dem Boot schäumte, und bekam den einen oder anderen Gischt-Spritzer ab.
Sie schipperten an Poole vorbei, der großen Hafenstadt im Südwesten Englands, die wegen ihres Naturhafens, dem zweitgrößten weltweit, berühmt war. Von hier gingen Fähren nach Frankreich, und es gab zahlreiche Bootsbauer und Werften für große Luxusyachten. Liam Waterstone war selbst ein bekannter Bootsbauer in der pulsierenden Stadt gewesen, doch als er in Rente ging, suchten er und Sarah sich ein ruhiges Haus in der Umgebung.
Nachdem sie ein Stück hinausgefahren waren, drosselte Liam den Motor, ließ den Anker fallen, und sie schaukelten nun auf den Wellen. Sein Boot war ein ehemaliger Fischkutter, den er in seiner Werft umgebaut hatte. Die Heckwand ließ sich herunterklappen und bildete eine Schwimm-Plattform, auf der man sitzen und die Beine im Wasser baumeln lassen konnte, vorausgesetzt, sie waren lang genug. Oder man sprang zum Schwimmen ins Meer. Es gab natürlich auch eine Leiter, um wieder zurück ins Boot klettern zu können. Liam saß dort besonders gerne, wenn er angelte. Nachdem er heute die Bootswand heruntergelassen hatte, wandte er sich an seinen Enkel: „Matrose, du darfst jetzt aufstehen und auf dem Boot herumlaufen. Aber sei vorsichtig, hörst du? Geh mir ja nicht über Bord, sonst darf ich nie wieder nach Hause kommen. Deine Oma macht mich zur Schnecke, wenn dir was passiert.“ „Keine Sorge, Opa, ich pass schon auf.“ „Gut, Seebär, dann lass uns mal die Angel klar machen. Wollen doch mal sehen, ob wir deiner Oma nicht einen schönen Fisch mitbringen können.“
Jason reichte seinem Opa den Köder; das hatte er bereits bei seinem Vater, einem passionieren Angler, gelernt. Aber Jason hatte sich bei dem damaligen Angel-Ausflug mit Rick fürchterlich gelangweilt, denn es war einfach nichts los. Er hätte lieber etwas Abenteuerlicheres unternommen, wie Drachen jagen oder Prinzessinnen retten, doch das hatte sein Vater anscheinend nicht verstanden. Hier auf dem Boot war das natürlich etwas anderes.
Obwohl das Meer ganz ruhig aussah schaukelte und drehte sich der Kahn im Kreis, ein paar Möwen umkreisten sie neugierig. „Opa, warum schaukelt das Boot so?“, fragte Jason, „es gibt doch gar keine richtigen Wellen.“ Liam war verblüfft; was diesem Knirps so alles auffiel. „Du hast recht“, antwortete er, „das Wasser sieht nicht sonderlich bewegt aus, aber das täuscht. Draußen auf dem Meer sind die großen Fähren unterwegs, deren Bugwellen bis in diese Bucht kommen und bei bestimmten Windverhältnissen für Unruhe im Wasser sorgen.“ Ganz verstanden hatte Jason diese Erklärung nicht, aber er gab sich zufrieden. Wichtig war nur, dass sie sich in Aldianas Reich befanden. Hoffentlich verfing sie sich nicht in der Angelschnur, dachte er besorgt.
Doch Opa hatte sein Meermädchen als geschickte, vollendete Tänzerin beschrieben, die es liebte, sich dem anmutigen Reigen der Wasserpflanzen anzuschließen. Sie teilte dabei mit ihrem Fischschwanz, der, anders als bei den übrigen Meermenschen, in allen Farben des Regenbogens schillerte, kraftvoll das Wasser, so dass ihre Drehungen und Salti von unerhörter Schönheit und Grazie zeugten. Nein, Aldiana war viel zu gewandt, als dass eine Angelschnur ihr gefährlich werden könnte.
Die Zeit verging, ohne dass ein Fisch anbiss. Einmal spannte sich die Leine, hing aber wieder durch, bevor Liam und Jason sie einholen konnten. Jason freute sich insgeheim für den Fisch. „Macht nichts“, meinte Liam, „lass uns erstmal etwas essen; ich bekomme langsam einen Mordshunger.“ Jason stimmte begeistert zu, denn er konnte das Picknick kaum erwarten; Opa packte immer so leckere Sachen ein und schien genau zu wissen, was sein Enkel am liebsten mochte.
Nach dem Imbiss gähnte Liam herzhaft. Das gute Essen und das Gläschen Wein -Jason hatte stattdessen Limonade aus einem Weinglas bekommen- ließen ihn ein wenig schläfrig werden.
Als Jason bemerkte, dass sein Großvater vor sich hindöste, zog er sich Schuhe und Strümpfe aus, setzte sich vorsichtig an den Rand der Plattform und versuchte, mit den Füßen im Wasser zu plantschen, doch seine Beine waren einfach noch zu kurz. Obwohl er schon ein guter Schwimmer war, wollte er nicht riskieren, ins Wasser zu fallen, denn dann würde sein Opa gewaltigen Ärger bekommen. Oma hatte ihm nämlich verboten, an Bord Wein zu trinken, weil ihn das immer müde machte. Also beobachtete Jason die Fische und bewegte ab und zu die Angel, damit keiner von ihnen aus Versehen anbiss.
Aldiana hatte sich bisher nicht blicken lassen. Jason überlegte: Sein Großvater hatte sich immer geweigert, ihm die Geschichte von Arielle zu erzählen, die alle anderen Kinder kannten. Dieser geklaute Walt Disney Kitsch hänge ihm zum