Analyseträume. Walter Pollak. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Walter Pollak
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783738001556
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ich mich doch als unschuldig.

      Man kann an das Sprichwort denken: „Mitgefangen, mitgehangen.“, aber ums Hängen ging es wohl glücklicherweise nicht, und die Bestrafung bleibt ungewiss. Im Traum wird auch nicht deutlich, was den Beschuldigten überhaupt angelastet wurde, und so kann man nur Vermutungen anstellen. Es geht um Schuld, Unschuld, verlorene Unschuld, um einen Richterspruch, eine Verurteilung und Bestraftwerden. In Anlehnung an Theodor Reik („Geständniszwang und Strafbedürfnis“, 1925) sieht es so aus, dass in uns allen ein Schuldgefühl vorhanden ist, auch ohne irgendeine tatsächliche Straftat. Die „Erbsünde“ bezieht sich zwar auf ein angebliches Vergehen des ersten Menschenpaares, einen Akt des Ungehorsams gegen Gott, wobei dann aber von einer Kollektivschuld ausgegangen wird. Es hat wohl mit dem kollektiven Unbewussten zu tun, und darin sind einige Schuldgefühle enthalten. Denke man nur an den „Feuerraub“, der in der griechischen Mythologie dem Prometheus angelastet wird und der zur Strafe an einen Felsen gekettet und von einem Adler gemartert wurde. Auch bei den Navajo-Indianern ist vom Feuerraub die Rede, wobei es dort ein Kojote war, der von den Göttern das Feuer stahl. Man hatte also ein schlechtes Gewissen, weil man der Natur sozusagen ein Geheimnis, eine besondere Kraft entrissen hatte und sich zu Nutzen machte. Ähnlich können wir uns heutzutage und zu Recht schuldig fühlen wegen des „Raubbaus“ an der Natur, indem wir deren Schätze heben und ohne Rücksicht auf spätere Generationen nicht nur nutzen sondern auch verschwenden! Es gab und gibt demnach immer etwas, um sich schuldig zu fühlen, und genauso wurde jeder Einzelne schuldig in seiner Kindheit, weil er den Eltern nicht gehorchte und verbotene Dinge tat. Das hört natürlich nach der Kindheit nicht auf: jeder hat gelogen, betrogen, andere verletzt, übervorteilt, hat Verkehrsregeln übertreten, bei der Steuer geschummelt usw. Und dieses „Sammelsurium“ führt zu einem diffusen Schuldgefühl, das zudem durch ein allzu strenges Über-Ich bei Einzelnen verstärkt zu einer Art „Schuldkomplex“ sich ausweiten kann. Dies führt wiederum, nach Theodor Reik, nicht nur zu einem „Geständniszwang“, dass wir also alles Mögliche durch einen unbewussten Drang auf verschiedene Art und Weise „gestehen“, auch durch psychopathologische Symptome oder Fehlhandlungen, sondern ebenfalls zu einem „Strafbedürfnis“, das entweder durch Selbstbestrafung oder die Suche nach Bestrafung von außen befriedigt wird. Wenn man wie ich als unerwünschtes Kind auf die Welt kam, zu einem ungelegenen, ungünstigen Zeitpunkt, und zumindest teilweise den Eindruck gewann, eher eine Belastung zu sein für die Familienangehörigen, dann kann man leicht verstehen, dass sogar das Dasein an sich mit Schuldgefühlen verbunden ist, stellt man doch in einem gewissen Sinn eine Zumutung dar für die anderen und muss sich große Mühe geben, die eigene Existenz zu rechtfertigen und angenommen zu werden. Im Traum bin ich nicht allein, sondern auch in einem wenn auch kleinen Kollektiv, wobei die Drei eine besondere Bedeutung hat als eine Ganzheit („Dreieinigkeit“), hier passend wohl als die Gesamtheit des Seelenlebens, mit Ich, Es und Über-Ich. Diese drei „Instanzen“ findet man vor Gericht nochmals wieder im Richter als Repräsentant des Ichs, in der Staatsanwaltschaft als Verkörperung des Über-Ichs und in der Verteidigung als Vertretung des Es. Dass ich überhaupt vor Gericht stehe im Traum wäre demnach als Folge des unbewussten und diffusen Schuldgefühls und des daraus sich ergebenden Bestrafungsbedürfnisses zu verstehen. Ein Teil von mir pocht zwar auf Unschuld und ist revoltiert, aber es gilt das andere Sprichwort: „ignorantia legis non excusat“, auf deutsch: „Unwissenheit schützt vor Strafe nicht“. Es nützt mir also leider nichts, dass ich angeblich nichts wusste von der Illegalität oder Strafbarkeit meines Tuns! Man kann hier auch noch an ein weiteres Sprichwort denken: „Coram iudice et in alto mari sumus in manu Dei“, auf deutsch: „Vor dem Richter und auf hoher See sind wir in Gottes Hand.“ Oder in einer anderen Version: „Vor dem Richter und auf hoher See sind wir allein in Gottes Hand“. Statt „Vor dem Richter“ heißt es oft „Vor dem Gericht“. Es geht demnach auch um ein Gefühl des Ausgeliefertseins, ähnlich wie den Naturgewalten gegenüber, denn die Hoffnung, „Gerechtigkeit“ zu finden vor Gericht, ist bekanntlich illusorisch. Es gehört ebenfalls eine Portion Glück dazu und vor allem genügend Geld, um möglicherweise den Gang durch die Instanzen einschlagen zu können. Im Falle einer Verurteilung kann man sich folglich schon dagegen auflehnen, nicht nur innerlich, sondern durch geeignete Rechtsmittel. Aber davon ist im Traum ja nicht die Rede. Die Geschichte erinnert übrigens an die Erzählung von Franz Kafka „Der Prozess“ (1925), wo auch überhaupt nicht klar wird, was dem beschuldigten Prokuristen Josef K. überhaupt zur Last gelegt wird.

      Passend hierzu ist ein weiterer Traum, der allerdings erst ein Jahr später erfolgte, und ich will deshalb das chronologische Vorgehen ausnahmsweise an dieser Stelle aufgeben. Hier bin ich nämlich im Gefängnis und probe den Ausbruch. Die Verurteilung wäre demnach rechtskräftig geworden, und ich wurde zu einer Gefängnisstrafe verurteilt, versuche jetzt aber abzuhauen, was mir auch gelingt durch die Mithilfe zweier Wärter, die mir die Schlüssel geben. Unterwegs sind Jungen zu sehen und ein Hund. Ich muss klettern, um eine Barriere zu überwinden und ein Gewässer zu durchqueren. Dabei sehe ich ein Kind, das auf dem Rücken schwimmt und das ein anderes, kleineres Kind festhält, das nicht schwimmen kann. Ich tausche mich diesbezüglich mit den Wärtern aus, die OK signalisieren. Im weiteren Verlauf treffe ich den Bruder eines Freundes und bemerke, dass die beiden sich wenig ähneln. Haben sie womöglich zwei verschiedene Väter? Er lädt mich ein, ihn im Gefängnis zu besuchen, um Tests zu machen. Es kommt stattdessen aber zu „sexuellen Spielen“.

      Die innere „Revolte“ hat also dazu geführt, dass der Bestrafung ein Ende gesetzt werden soll durch einen Ausbruch in die Freiheit. Ich bin nicht auf mich allein gestellt, sondern habe die Komplizenschaft zweier Wärter, die mir mittels der Schlüssel das Öffnen der Gefängnistore ermöglichen. Es gibt aber dennoch einige Hürden zu überwinden; und zwar eine Art Mauer und einen Wassergraben, den es zu durchschwimmen gilt. Dabei begegne ich zwei Kindern, wobei das größere Kind ein kleineres durchs Wasser zieht, möglicherweise sogar rettet, da es nicht schwimmen kann. Später gibt es noch eine Umkehr der Verhältnisse: Nicht ich bin im Gefängnis, sondern ein anderer, den ich besuchen soll, um Tests zu machen, also als Psychologe, aber es kommt zu „sexuellen Spielen“. Es geht folglich um Homosexualität. Das Ganze hat natürlich erneut mit Schuldgefühlen und einem Strafbedürfnis zu tun, aus welchen Gründen auch immer, wobei es hier aber gleichzeitig um einen Befreiungs- und Ausbruchsversuch geht. Befreiung von diesem Schuldbewusstsein und Selbst- oder Fremdbestrafungswünschen, aber auch Befreiung von einer Einengung der Existenz oder des Selbst, wobei das eine das andere nicht ausschließt. Es entspräche also dem Wunsch, aus sich herauszugehen und „freier“, autonomer zu werden, im Sinne der Individuation und Weiterentwicklung. Die beiden Wärter kann man entsprechend als helfende Selbstanteile ansehen, und die Schlüssel symbolisieren die seelischen Kräfte und Hilfsmittel, die diesen Weg ermöglichen. Man kann an den Mithraskult denken und den „Schlüsselkönig“ Aion, der mit gekreuzten Armen und in den Händen jeweils einen Schlüssel haltend dargestellt wird. C. G. Jung wies darauf hin, dass es sich um die Schlüssel zur Unterwelt handelt, im übertragenen Sinn also zum Unbewussten, zu Licht und Dunkelheit, zu Vergangenheit und Zukunft. Auch der Apostel Petrus wird als Schlüsselträger dargestellt, und bei ihm symbolisiert der Schlüssel die Vermittlerrolle zwischen Erde und Himmel, zwischen den Menschen und Gott, also die transzendente Funktion. Der „Hierophant“, der an der Spitze der Priester im Tempel der Demeter in Eleusis stand, galt als der „Eröffner der Heiligtümer“ oder „Enthüller der heiligen Geheimnisse“ und wird teilweise mit einem oder zwei großen Schlüsseln dargestellt, zum Beispiel auf Tarot-Karten. Man darf dabei nicht vergessen, dass die Eleusinischen Mysterien ursprünglich mit dem „Großen Weiblichen“ verbunden waren und insbesondere mit der wieder hergestellten Einheit (Wiederverbindung) zwischen Mutter und Tochter (Demeter und Kore-Persephone). So besitzen die ägyptische Bastet und die griechische Hekate den Schlüssel der Fruchtbarkeitsgöttinnen zum Tor des Schoßes, zur Unterwelt, zu Tod und Wiedergeburt. Dass die Männer durch diese matriarchal geprägten Mysterien ebenfalls ergriffen wurden und diese letztendlich „usurpierten“, erklärt Erich Neumann („Die Große Mutter“ 1974) damit, dass sie dabei mit ihrer eigenen weiblichen Seite konfrontiert wurden und sich mit dem „Göttlichen Kind“ der Muttergöttin identifizieren konnten. In diesem Zusammenhang muss man gleichfalls die (nicht nur) im antiken Griechenland verbreitete Knabenliebe und das Tragen von Frauenkleidern der an verschiedenen