1. Kapitel: Der Einstieg
Die Analyse begann mit einer Fehlleistung: Ich war aus Versehen eine Stunde zu früh gekommen, und der Analytiker fragte, ob ich in einer Stunde wiederkommen wolle oder doch lieber in einer Woche. Spontan entschloss ich mich, erst in der Woche drauf erneut zu erscheinen, und so kam sehr schön der innere Konflikt zum Ausdruck, dass ich es zwar einerseits ziemlich eilig hatte anzufangen, dass aber gleichzeitig Widerstände vorhanden waren, denen die Verschiebung sehr gelegen kam.
Leider ist nicht mehr in Erinnerung und wurde auch nicht schriftlich fixiert, welchen Initialtraum ich in der Analyse vortrug. Es war mir zum damaligen Zeitpunkt wohl auch noch nicht bekannt, welche besondere, prospektive Bedeutung ein solcher als Erstes in einer psychotherapeutischen Behandlung erzählter Traum besitzt. Oft enthält er in verschlüsselter Form programmatisch den abzusehenden Verlauf der Analyse oder des bevorstehenden Entwicklungsschrittes. Gehen wir deshalb einfach chronologisch vor und beginnen mit dem ersten dokumentierten Traum, der irgendwann in der Anfangsphase der Analyse im Herbst 1980 geträumt worden war. Er handelt von einem Gemeindepfarrer, der während der Jugendzeit eine besondere Rolle als Vorbild und Förderer gespielt hatte, und dessen Haushälterin, die im Traum verstorben ist und in einem seltsamen Begräbnis, ohne „Zeremonie“ bestattet wird. Der Leichnam sieht aus wie eine Puppe. Es stellt sich die Frage, wer die Bestattung vornimmt, also welcher Geistliche.
Folgende Einfälle oder Assoziationen kommen in Frage: Der Pfarrer ist verbunden mit einer Zeit sehr starker religiöser Gefühle, Überzeugungen und einer ausgeprägten Frömmigkeit. Er lebte mit seiner alten Mutter und der Haushälterin im Pfarrhaus, und man hatte mit beiden Kontakt. Die Haushälterin war eine bescheidene, zurückhaltende Person vom Typus „alte Jungfer“, etwas farblos, verkniffen, verbittert, und sie stand im Schatten des Pfarrers und von dessen Mutter. Er wiederum wurde von den beiden Frauen bemuttert und bekocht. Dennoch wurde er als männliche und wohl auch väterliche Person wahrgenommen und ein wenig bewundert, auch wegen seiner recht dynamischen und menschennahen Art. Andererseits fühlte man sich ihm auch ein wenig überlegen, denn die eigene religiöse Ausrichtung war damals noch strenger und asketischer, „heiligmäßiger“ als die seine. Man war sozusagen „päpstlicher als der Papst“. Zwischen den beiden Frauen gab es wohl eine gewisse Rivalität und Spannungen, ähnlich wie zwischen einer Mutter und der Schwiegertochter, wobei es aber keine Anzeichen dafür gab, dass der Pfarrherr ein Verhältnis gehabt hätte mit der Haushälterin. Die war eher wie eine zweite, jüngere Mutter. Es war die Zeit nach Papst Johannes XXIII. und dem 2. Vatikanischen Konzil. In dieser Pfarrei wurden die in kirchlicher und liturgischer Hinsicht „modernen“ Ansätze gelebt, was aber nicht verhinderte, dass in politischer Hinsicht sehr konservative und rechtsgerichtete Tendenzen vorherrschten. Der „Spiegel“ galt als des linken und liberalen Feindes Sprachrohr, und Sonntags wurde die „Bildpost“ verteilt, in ähnlicher Aufmachung wie die „Bildzeitung“, aber als katholisches Kampfblatt konzipiert. Ein Priester und Studienrat, der ab und an der Messe vorstand und gelegentlich auch die Sonntagspredigt übernahm, blieb in Erinnerung als ein politischer „Hardliner“, der vor den Wahlen unverhohlen die CDU als einzig wählbare Partei für den katholischen Kirchgänger empfahl und die Predigt zur Wahlrede umfunktionierte.
Zum Zeitpunkt des Traumes hatte man längst den Glauben und die Frömmigkeit verloren, und so erschien der Traum als Rückgriff auf eine vergangene Entwicklungsstufe in einer Zeit, in der zwar einerseits die Ablösung von den Eltern verstärkt einsetzte, andererseits aber Gott, die katholische Kirche und auch dieser Pfarrer mit seinen zwei Frauen in gewisser Weise als Ersatzfamilie fungierten. Die Haushälterin hat wohl die Rolle einer mütterlich geprägten Animafigur und wird hier zu Grabe getragen, in etwas würdeloser Art und Weise, wäre doch zu erwarten, dass ihr Chef die Beerdigung angemessen gestaltet, aber dies bleibt offen. Es sind vermutlich Anteile des Selbst, die hier absterben, auch im Zusammenhang mit der Ablösung von den Elternfiguren und von der Kindheit und Jugend, in sonderbarer Weise, ohne großen „Pomp“. Es wäre insbesondere der weibliche Seelenanteil, also die Anima, der eine endgültige Veränderung zu erfahren hat. Besonders interessant erscheint aber der Umstand, dass der Kadaver wie eine Puppe aussieht. Hier muss man etwas ausholen, um die symbolische und psychologische Bedeutung der Puppe zu verstehen. Der Wortursprung von lat. „pupus“, „das Neugeborene“, erinnert an den Umstand, dass die Puppe, auch von der üblichen Größe her gesehen, ein Baby oder Kleinkind darstellt und bei Mädchen überwiegend zum Mutter-Kind-Spiel verwendet wird. Es gibt natürlich noch ganz andere Puppen, auch in Lebensgröße, etwa Schaufensterpuppen oder Gummipuppen, Sexpuppen, und es gibt Puppen aus ganz unterschiedlichen Materialien: Stroh, Stoff, Plastik. Es gibt Voodoo-Puppen und Vogelscheuchen, Marionetten und Kasperfiguren. Die Jakuten in Sibirien und die altaischen Tataren haben bei ihren Hundeschlittenfahrten kleine Götzenpuppen als Talisman dabei. In den Schöpfungsmythen findet man generell die Vorstellung, dass der erste Mensch geformt wurde aus Erde, Lehm, Speichel, Blut und Tränen und ihm dann der Odem des Lebens eingehaucht wurde, er also beseelt wurde. Es findet eine Verwandlung statt, eine Metamorphose, ähnlich wie bei Schmetterlingen, wo die Raupe sich zur Larve „verpuppt“ , um sich später als Falter zu „entpuppen“. Die „Puppe“ entspricht dann einem meist fast oder völlig bewegungslosen Übergangsstadium. Der Psychoanalytiker Donald Winnicott bezeichnet die Spielzeugpuppe und ähnliche Dinge als „Übergangsobjekt“, welches eine Art Brücke zwischen intrapsychischen und extrapsychischen Vorgängen darstellt. Es dient als Ersatz für die vorübergehend nicht anwesende Mutter oder Bezugsperson. Die Möglichkeit des Spiels eröffnet andere Wirklichkeiten und belebt die Fantasietätigkeit und Imagination. Im russischen Märchen „Wassilissa“ dient eine Puppe als Hilfs-Ich, von der sterbenden Mutter an die achtjährige Tochter übergeben für den Fall, dass ihr Kummer und Leid widerfahren. Tatsächlich steht die Puppe ihr in allen Nöten bei und begleitet sie auf ihren Wegen. Die Puppe in unserem Traum könnte demnach symbolisch zum Einen für einen Wandlungsprozess stehen, für einen Übergang von einem Lebensstadium zum nächsten. Auch im Märchen beginnt ja für das Mädchen nach dem Tod der Mutter ein neuer Lebensabschnitt, und die Puppe dient als Übergangsobjekt, wobei die Ähnlichkeit mit dem Traumbild verblüffend ist. Ähnlich wie damals im späten Jugendalter war man zum Zeitpunkt der Analyse auch wieder in einer Phase des Umbruchs, der Veränderung und Weiterentwicklung. Im Traum wird wohl der Archetypus der Initiation aktiviert, der jeweils mit einem Übergang zu tun hat, mit einer symbolischen Wiedergeburt. Es werden Ängste freigesetzt sowie Gefühle der Trauer, insbesondere in der Übergangszeit vom Kindsein zum Erwachsenwerden, da es ja immer auch einen Verlust mit sich bringt, eine Entwicklungsphase hinter sich zu lassen, loszulassen. Dies wird durch das Symbol des Todes dargestellt. Und somit ist dieser Traum, auch ohne der Initialtraum zu sein, dennoch von besonderer Bedeutung.
Passend hierzu folgte ein Traum etwa zwei Wochen später von einem Umzug, wobei die Miete sich verdoppelte, also eine Art Albtraum, da die Verdoppelung der Wohnkosten verständlicherweise mit großen Sorgen und Ängsten verbunden ist, vor allem wenn das Einkommen sich nicht gleichzeitig deutlich erhöht. Der Umzug symbolisiert erneut die Veränderung, auf das Innere bezogen, und die horrend steigenden Kosten beziehen sich wohl auf die Bezahlung der Analyse, wobei die monatlichen Kosten tatsächlich sogar die Miete deutlich überstiegen. Nur durch Einschränkungen und einen Nebenerwerb war es möglich, dies zu bewerkstelligen. Es wird in einem gewissen Sinn ein „Opfer“ gebracht, was wiederum an Initiationsriten erinnert, die im Allgemeinen mit einer Opferung verbunden waren, meist Tieropfer, aber auch Menschenopfer, später Früchte der Arbeit, der Ernte, oder bei der Beschneidung wurde ein Stück des Penis geopfert. Es muss irgendwie weh tun, und so ist es auch bei der Bezahlung der Analysestunden, die dadurch wiederum einen besonderen Wert erhalten, was bei der Bezahlung durch die Krankenversicherung entfällt. Dennoch wäre es natürlich verkehrt, diese Kostenübernahme abzuschaffen, denn nur die Wenigsten könnten sich dann eine solche Behandlung leisten. Ganz umsonst ist sie auch nicht, wegen der Krankenversicherungsbeiträge.
In einem anderen Traum stand ich vor Gericht,