Mit der Frage nach Gott lag Esther völlig richtig, mit der Frage nach Gestalt und Alter nicht. Diese fand Robert allerdings äußerst interessant, weshalb er seine ursprüngliche zweite Frage nach der Herkunft des hauseigenen Bieres einstweilen hinten anstellte. Eine Möglichkeit war, dass man sich als ausreichend guter oder zumindest moralisch brauchbarer Mensch im Jenseits in jener Gestalt materialisierte, in der man sich zu Lebzeiten selbst am liebsten gesehen hatte. Robert zählte dreiunddreißig Lenze, als es ihm die Schuhe aufstellte und er hatte immer genug Selbstvertrauen um sich dementsprechend wohl zu fühlen wie er gerade war. Genau so saß er auch im Broken Bones und nahm von Sepp, dem Barmann, zwischenzeitlich seinen dritten Humpen in Empfang.
>>Siehst du den alten Typen mit weißem Bart da an der Bar, der wie frisch aus einer „Werthers Echte“-Werbung aussieht?<<Robert drehte sich um und erblickte einen offensichtlich sehr betrunken, aber gut gepflegten Senioren. Er schlief mit dem Gesicht in einem Aschenbecher am Tresen und schnarchte vor sich hin. >>Das ist Koma-Heinrich, der sah sich am liebsten in der fürsorglichen Rolle des liebevollen Großvaters. Sein Enkel war gerade fünf, als er bei einer Kaffeefahrt nach Ungarn seine Herztabletten vergessen hatte.<<>>Interessant, und was ist passiert?<< >>Sein Enkel folgte ihm zwölf Jahre später nach. Überdosis Heroin. Der junge Mann steht nun recht abgefuckt am Hauptplatz herum, und tut immer noch das, was er am besten gekonnt hatte, nämlich Geld für Drogen schnorren. Als der gute Heinrich merkte, dass mit „Mensch ärgere dich nicht“ - Spielen und Parkspaziergängen nun nicht mehr so viel läuft, ergab er sich dem Suff und wurde hier zum Stammgast.<<
Mit dieser kleinen und traurigen Anekdote nahm Esther gleich die zweite Möglichkeit vorweg. Diese bestand darin, dass man – mangels fehlenden Selbstbildes – als das materialisierte, was die anderen in einem sahen. In solchen Fällen zog man als Junkie gelegentlich die sprichwörtliche Arschkarte, mit ein bisschen Pech sogar doppelt. Das geschah zum Beispiel dann, wenn man als zweite Geldquelle neben dem Schnorren nur schlecht bezahlten Sex mit biederen aufgeschwemmten Familienvätern zur Verfügung hatte, welche nach einem schnellen Fick wieder heimfuhren und dort ihren Kindern und gelangweilten Hausfrauen die heile Welt vorgaukelten. Auch war es ohnehin immer schon eine Fehlannahme diverser religiöser Philosophien, dass man im Leben danach einen auf lastbefreite Ewigkeit machen konnte. Von allen Sünden gereinigt und per se durch absolute Fröhlichkeit sediert zu sein war eine Mär. Zumindest innerlich blieb man im Wesentlichen derselbe, und die Möglichkeit einer vernünftigen Sedierung ist für die meisten nach wie vor mit dem Besitz von ausreichend Kohle verbunden. Ein Upgrade des eigenen Charakters und des eigenen Glückshormonpegels sah der Tod nicht vor.
Zu guter Letzt – so erfuhr Robert – gab es auch die Chance, als das zu materialisieren, als was man sich selbst am liebsten gesehen hätte, aber im Diesseits halt leider nie war. Dies wurde aber nur den Menschen zu Teil, die moralisch nicht nur ausreichend brauchbar, sondern relativ gut und uneigennützig gelebt hatten. Ersteres traf zwar auf die meisten aller Verstorbenen zu, letzteres aber wohl nur auf die wenigsten. Man konnte sogar glauben, dass scheinbar ganze Berufsgruppen - vor allem aus den Bereichen Wirtschaft, Politik und FC Red Bull Salzburg - davon gänzlich ausgenommen waren. Abgesehen davon gab es noch den Sonderfall, dass Beamte im öffentlich-toten Dienst aufgrund besonderer Leistungen mit diesbezüglich ausreichend Machtbefugnissen belohnt werden konnten. Trat dies ein, durften sie ihr Aussehen selbst bestimmen, was allerdings einen gewissen Rang und eine gewisse Anzahl an Dienstjahren erforderte. Eines hatten die meisten von jenen, die ihr Aussehen selbst bestimmen durften, dabei allerdings gemein. Sie tendierten dazu, eher selten von ihrer ursprünglichen Erscheinung zu sprechen.
5
>>Zahlen bitte!<<
>>Hey Moment, und was ist jetzt mit Gott?<<
>>Klar gibt es Sie. Hat auch mit Imagen zu tun, aber dafür haben wir keine Zeit mehr, ich muss dich jetzt echt zum Boss bringen, über den Rest klärt sicher er dich auf.<<
Bevor Robert nachhaken konnte, vor allem was das Femininum des Pronomens betraf, stand auch schon Sepp am Tisch und verlangte mit antrainiertem grimmigem pseudoirischem Blick von jedem Sechzig Kronen. Die Bestimmtheit seiner Körperhaltung signalisierte, dass der Preis wohl nicht verhandelbar wäre.
>>Kronen, äh, ja, nimmst du Euro auch?<<
Sepp hätte wohl gar nicht mehr zu lachen aufgehört, wenn nicht Esther 130 Kronen auf den Tisch gelegt und >>Passt schon so<< gesagt hätte. Scheinbar hatte sich die Idee einer europäischen Union im Jenseits nie durchgesetzt, was Sepp insofern zugute kam, als dass er in den letzten zehn Jahren regelmäßig unfreiwillig zechprellende Neugestorbene zum Geschirrwaschen zwingen konnte. Die meisten ließen sich nicht lange bitten, da es immer noch angenehmer war, Gläser abzuspülen, als sie über die Rübe zu bekommen. Was unbezahlte Rechnungen betraf, ließ sich der Besitzer des Broken Bones nur selten zum Scherzen verleiten.
>>Steh auf Cowboy, wir müssen zur Bim und dann nach Dead Lend.<<
Während Robert noch äußerst bemüht war, sich aufzuraffen, ohne dabei gleich wieder in den Sessel zu kippen, stand Esther bereits in den Startlöchern.