„Fertig!“
Ramin wandte seinen Hals zu ihr und gewahrte verblüfft, dass sich unter Mädchenkleidern anscheinend nochmals eine Hülle aus Stoff befand. Der menschlichen Gebräuche unkundig, ließ er Skirias neuen Aufzug lieber unkommentiert, um sie nicht zu verärgern.
„Leg’ nun den Ast zwischen meine Zähne!“ Er gewährte ihr einen Blick in seinen ausladenden Rachen.
Vorsichtig beförderte Skiria den Stecken in seine Schnauze, die er anschließend so weit es ging wieder zuklappte.
„Mass uns mehen!“
Skiria unterdrückte ein Zähneklappern. Plötzlich bereute sie ihren Entschluss, den Drachen zu begleiten. Die Wasseroberfläche lag vollkommen still und kräuselte sich erst ein wenig, als sie ihren Zeh hineinhielt, um die Temperatur zu prüfen. Überrascht von der eisigen Kälte des Sees, zog Skiria den Fuß schnell wieder zurück, auch wenn sie nicht damit gerechnet hatte, angenehm temperiertes Badewasser vorzufinden. In welch ungewöhnliche Lage sie sich nun manövriert hatte: Halb nackt, in einer Höhle neben einem Ungeheuer stehend, und im Begriff, in ein finsteres Gewässer zu tauchen.
Das Schicksal schien ihr seltsame Prüfungen abzuverlangen.
Der erste Schritt ins kalte Nass zog Gänsehaut über ihren Körper. Mutig wagte sie sich weiter vor und unterdrückte einen Aufschrei, als sich die Wassermassen um ihren Bauch schlossen. Der Grund fiel erstaunlich schnell ab, denn nach weniger als drei Ellen spürten ihre Füße die spitzen Steine nicht mehr. Skiria fühlte sich, als schwämme sie im eisklaren Wasser eines winterlichen Gebirgsbaches. Ihre Arme und Beine planschten wild umher, in der Hoffnung, dass die Bewegungen ihren Leib bald etwas erwärmten. Ramin ließ nicht lange auf sich warten und gesellte sich mit wenigen Schritten zu ihr. Die Welle, die der Koloss dabei erzeugte, drohte Skiria wieder ans Ufer zu schwappen, doch sie paddelte tapfer gegen die unvermittelte Strömung an und schaffte es, sich im und zu ihrer großen Erleichterung auch über Wasser zu halten.
„Malt dich an meinem Mückenkamm mest!“, rief Ramin und bemühte sich dabei, seine Klauen möglichst ruhig zu halten, damit sie keine weiteren Wogen erzeugten, die seine kleine Freundin gefährdeten. Wie ein Frosch stieß Skiria sich mit ihren Beinen ab und streckte sich, um den Drachen zu erreichen. Sie bekam eine der rötlichen Zacken zu fassen und zog sich daran nahe an den Drachenleib, sodass sie sich mit beiden Händen festhalten konnte.
„Mist mu mereit?“, fragte Ramin, der seinen Kopf schräg gelegt hatte, damit die Gepäckstange in seinem Maul trocken blieb.
„Von mir aus es kann losgehen!“ Skiria bereitete sich auf einen gewaltigen Ruck vor, der einen Herzschlag später tatsächlich das Ungetüm durchfuhr, als es seine Pranken scheinbar zu einer Art Flossen umwandelte und in einer Geschwindigkeit durch den See pflügte wie ein Boot, auf dem mindestens sechs Männer kräftig ruderten. Während Skiria sich krampfhaft an ihm festkrallte, teilten sich die Fluten unter der Last des Tieres.
Die schmale Öffnung an der gegenüberliegenden Wand rückte näher. Skiria befürchtete schon, dass die Riesenechse nicht mehr rechtzeitig zum Stillstand käme und gegen die Felsen prallte, als das Tier jäh in seinem Schwung inne hielt. Bewegungslos trieb es in dem Gewässer wie ein riesiger toter Fisch.
„Mu musst mich mosmassen, ich merde metzt mauchen!“, informierte er Skiria, die augenblicklich ihre Hände von dem steifen Rückenkamm nahm, als befiele sie die Angst, mit dem Drachen in die Tiefe gerissen zu werden. „Marte einen Augenblick, dann schmimm’ durch den Schmalt. Mir mehen uns drümen mieder!“
Bevor das Mädchen etwas erwidern konnte, fühlte sie den Drachenrumpf unter sich weichen, sah den mächtigen Kopf im Wasser verschwinden, bis nur noch der Ast herausragte, der sich nun in Bewegung setzte und ihr den Weg weisen zu schien. Was hinter dem Loch im Felsen liegen mochte, konnte sie nicht erkennen. Bedrohlich schwarz lag der Eingang zu den Drachenwegen uneinsehbar vor ihr.
Trotz ihrer Furcht schwamm Skiria beherzt darauf zu und betete, dass die dahinter liegende Höhle keine unliebsamen Überraschungen bergen mochte.
Dunkelheit umfing Skiria, als sie den Durchbruch zu den Drachenwegen schwimmend passierte. Immer wieder stiegen kleine Bläschen an die Wasseroberfläche - der einzige Beweis für die Anwesenheit des Drachen. Der Ast, an dem sich das Bündel mit dem Drachenkraut befand, ruckelte nun, doch Ramin blieb weiter unter Wasser. Allmählich gewöhnten sich Skirias Augen an die Dunkelheit. Das Gewässer schien nicht besonders weit in die Grotte hineinzuragen, denn Skiria glaubte, bereits wenige Ellen vor sich das Ufer erkennen zu können. Sie bewegte sich noch etwas vorwärts und ertastete schließlich mit ihren Füßen steinigen Grund, der sich als erstaunlich flach erwies, sodass sie bequem an den Rand des Sees waten konnte. Triefend vor Nässe wartete Skiria darauf, dass ihr Freund auftauchte und begann sich allmählich zu sorgen.
„Ramin?“, schallte ihre Stimme hallend durch den steinernen Raum. Wie auf Kommando schoss der lange Hals des Drachen aus dem Wasser. Schäumende Fontänen spritzten auf seine Begleiterin, als er scheinbar mühelos auf sie zu pflügte, sich aus den Wassermassen erhob und den Stecken, den er immer noch zwischen seinen Zähnen hielt, vor Skirias Füße warf. Dankbar band sie ihr Kleid los, musste aber erkennen, dass es wenig Sinn hatte, das Gewand über ihr tropfnasses Unterkleid zu streifen. Deshalb befreite sich Skiria zuerst davon, nicht ohne Ramin vorher zu bitten, seinen Blick abzuwenden.
Der Drache wunderte sich erneut und fragte sich, was sie wohl vor ihm verbergen mochte. Dass sie eine Schutzschicht benötigte, leuchtete ihm ein, denn verglichen mit seinen widerstandsfähigen Schuppen wirkte ihre Haut dünn und verletzlich. Doch die menschlichen Gewänder schienen noch einem anderen Zweck zu dienen, den er nicht recht verstand. Ramin bemühte sich, seine Neugier zu bezähmen und nicht nach dem nackten Mädchen zu schielen, denn er vermutete, damit ihren Ärger zu erregen. Rasch hatte Skiria sich wieder bedeckt. Ein herrliches Gefühl, trockenen Stoff auf der Haut und feste Schuhe unter den Füßen zu spüren. Auch ihr Haar hatte sich mit Wasser vollgesogen. Um es schneller zu trocknen, band Skiria ihren Zopf auf und ließ die langen hellen Strähnen feucht über ihren Rücken hängen. Das Unterkleid wand sie aus und band es zum Trocknen an die Astgabelung.
„Du kannst wieder hersehen“, gab sie Entwarnung. Ramin erkannte zufrieden, dass seine Kameradin sich nun in reisefertigem Zustand befand und deutete mit einem Kopfnicken an, dass ihr Marsch nun begänne. Er richtete sich zur vollen Größe auf und ließ mit seinen schweren Schritten den Felsboden beben. Zögernd folgte ihm Skiria. Den Stecken, an dem das weiße Wäschestück weithin sichtbar wie eine Fahne baumelte, benutzte sie als Gehhilfe und hoffte inständig, dass ihnen in nächster Zeit niemand begegnen mochte, denn sie kam sich damit etwas albern vor.
Die Drachenwege verliefen sich in weitläufigen, steinigen Gängen, von denen hin und wieder eine Gabelung abzweigte. Skirias Augen gewöhnten sich langsam an die Düsternis, die nur gelegentlich einfallende Sonnenstrahlen unterbrachen. Unter ihren Sohlen spürte sie glatten Felsengrund. Sie musste höllisch aufpassen, um nicht darauf auszurutschen, sodass sie ihre Schritte sehr behutsam setzte. Ramin konnte sich problemlos fortbewegen, denn das Felsengewölbe war hoch genug. Die Breite dagegen variierte. Während manches Mal drei ausgewachsene Drachen nebeneinander Platz gehabt hätten, verengte sich der Weg oft zu einem schmalen Pfad, den die beiden hintereinander beschreiten mussten.
An Trinkwasser mangelte es nicht. Dafür sorgten die schimmernden Wasserperlen, die an der Decke hingen und regelmäßig von dort herab tropften. Am Boden hatten sich kleine Kuhlen gebildet, in denen sich das Wasser sammelte. In manchen Nischen der Felswände verbargen sich schlafende Fledermäuse, die flatternd aufschreckten, sobald Ramin und das Mädchen ihre Ruhe störten.
Skiria