Nach den ersten Schwimmzügen ist dieser Gedanke vergessen: Zug um Zug erholt sich mein Körper, die Gedanken befreien sich von den Fesseln der durchwachten Nacht und das Gefühl der Freiheit und Zufriedenheit scheint alles zu beherrschen.
Wieder zurück am Ufer, nach meinem obligatorischen Beerenfrühstück, wage ich einen neuen Versuch meine Situation zu analysieren. Ich muss einfach wissen, was hier vorgeht!
Jeder Tag und jeder Morgen ist gleich. Bis auf wenige Kleinigkeiten gleicht ein Tag dem anderen; ich weiß nicht einmal mehr, wie viele Tage ich bereits durch dieses seltsame Land wandere.
Geht es mir wie Bill Murray im Film „Und täglich grüßt das Murmeltier“? Ich habe den Film bestimmt hunderte Male auf Video gesehen, na ja, wahrscheinlich doch nur zehn oder fünfzehn Mal.
Geht es auch mir so? Drehe auch ich mich im Kreis und ein und der selbe Tag, beginnt täglich neu? Bin ich dazu verdammt oder ausersehen, täglich im See zu baden und mich für immer von den immer gleichen Beeren zu ernähren?
Es stimmt, jeder Morgen ist gleich, jeder Tag ist gleich. Aber er ist nicht der selbe.
In den Anfängen der Filmkunst - ohne Blue Box, Videoleinwand und digitaler Nacharbeit am Computer, noch tonlos und in schwarzweiß - erfanden ideenreiche Filmemacher den einfachen, wie effektvollen Trick im Studio einen fahrenden Zug in realistischer Bewegung darzustellen.
Eine detailgetreu bemalte Leinwand wurde endlos am Fenster abgespult. Somit hatte der Zuschauer den Eindruck von vorbeirasenden Landschaften. Die nach einiger Zeit sich wiederholende Szene bemerkte er nicht.
Bin auch ich Gast in einem endlosen, sich wiederholendem Film?
Sicher, täglich wechseln die Landschaften, aber im Grunde sind sie doch immer gleich. Der See, das Ufer, mein Lagerplatz, einmal größer, einmal kleiner: aber doch immer gleich.
Ich packe, in dem Bewusstsein jetzt keine Antwort zu finden, die Fragen beiseite und konzentriere mich auf die Erlebnisse der letzten Nacht. Ich muss klären, in wie weit ich nur träumte oder mich tatsächlich ein nächtlicher Besucher beobachtete.
Woher kamen die Geräusche? Ich schließe die Augen und versuche mich zu erinnern. Wie auf Befehl erhöht mein Herzmuskel seine Taktfrequenz, mein Trommelfell beginnt zu pochen und die angespannte Angst ist wieder deutlich zu spüren.
Jetzt bin ich mir sicher, hinter dem Strauch, den ich gestern systematisch abweidete, waren die Geräusche.
Ich kämpfe mich durch das Dickicht hinter dem Strauch. Zerquetschte Beeren kleben an mir, obwohl ich sicher bin, den Strauch gestern bis auf die letzte Beere geleert zu haben.
Diesen Widerspruch verwerfend, oder nur verdrängend, mühe ich mich weiter durch tausende alter, trockener Äste. Das Dickicht stellt sich mir gleich einer mit Stacheldraht geschützten Kasernenmauer entgegen. Ein Schutzwall aus dem Gewirr unzähliger, abgestorbener Äste, mit frischem Holz undurchdringlich verwoben. Eine perfekte Statik der Natur, die jedes Weiterkommen unmöglich macht.
Enttäuscht trete ich den Rückzug, den einzigen gangbaren Weg, an.
Ich entscheide, dem Geheimnis aus der anderen Richtung auf die Spur zu kommen.
Das Umgehen des kleinen Wäldchens bereitet keine Probleme. Ich achte genau darauf, die Orientierung nicht zu verlieren, um exakt hinter der Sträucherwand meine Suche fortsetzen zu können. Eine Suche, deren Ergebnis die Schrecken des Wahnsinns oder die Angst nicht alleine zu sein, bringen wird.
Ich nähere mich mit größter Vorsicht, um keine Spuren zu vernichten oder wie Robinson Crusoe auf seine eigenen hereinzufallen, suche fieberhaft nach geknickten Zweigen, bis mir einfällt, mein nächtlicher Besucher hätte die Äste sicherlich, wie auch ich, nur gestreift und nicht in Hüfthöhe abgeknickt. Guter alter Karl May, bei Dir gab es immer einen geknickten Strohhalm, oder besser ein verlorenes Taschentuch, das den Weg markierte oder die Spur verriet. Aber ich, ich kann nichts entdecken.
Meter um Meter mühe ich mich über den durch hohe Bäume in zartes, goldenes Dämmerlicht getauchten Waldboden.
Wenige Meter vor meinem vermuteten Ziel gehe ich zu Boden, die Augen direkt über dem Waldboden und suche die Umgebung Zentimeter für Zentimeter akribisch ab. Ein Fährtenhund hätte sicher in mir seinen Meister gefunden.
Da ist er, der Beweis, den ich mit aller Kraft herbeisehnte: Ein kleiner Ast, keinen Zentimeter dick und in der Mitte gebrochen. Ehrfürchtig, mit rasendem Herzen und hämmernden Puls, hebe ich meine Trophäe auf und trage sie aus dem Dämmerlicht ins Freie.
Mit zitternden Händen betrachte ich meinen Fund. Die Bruchstelle strahlt frisch und saftig in der hellen Morgensonne. Der Fund des Heiligen Grals wäre sicher nichts gegen meinen Schatz. Immer wieder drehe und wende ich meine Kostbarkeit, als wartete ich auf ein Wunder oder einen Geist - einen Gin - der mir alles erklärt und mich fragt, welchen Wunsch ich hätte. Aber die Botschaft ist eindeutig.
Ich bin nicht alleine!
Es gibt noch anderes Leben in dieser unendlichen Kulisse, in der Welt der Wiederholungen.
Ich habe keine Zweifel oder vielleicht auch nur den Wunsch mein nächtlicher Besucher möge auch nur ein friedlicher Wanderer sein.
Jede Zelle in meinem Körper ist sich sicher: Kein Tier! Ein Mensch, ein Freund, ein Verbündeter.
Der Gedanke einen Verbündeten zu brauchen, macht mir erneut Angst. Hier gibt es keine Gefahren, alles ist friedlich und ruhig. Im Paradies gibt es nichts gefährliches, rede ich mir ein.
Mein Schwert, die Verkörperung von Gefahr, lehnt friedlich am Felsen, dicht am Lagerplatz. Wie ist eine so tödliche Waffe im Paradies möglich? Im Paradies der endlosen Kulisse.
Mich aus meinen Gedanken zwingend, beschließe ich, meinen Marsch nach Westen hier zu beenden.
Nach einem zweiten Beerenfrühstück, an das sich mein Magen und Darm zwischenzeitlich gut gewöhnt hat, gehe ich zu der mir liebgewonnenen Tagesordnung über.
Ein ruhiges, aber ausgiebiges Bad im vormittäglichen See belebt mich auf wundersame Weise. Auch dieser See ist - nach Wochen - wie der erste. Ja, eine andere Uferlinie und auch andere Pflanzen am Ufer, der gestrige See hatte sogar eine kleine Insel... und doch irgendwie der gleiche.
Nach der Seemitte wende ich und begebe mich auf den Weg zurück zum Ufer. Jetzt sind es noch etwas mehr als zweihundert Meter, aber die kleine Bucht vor meinem Lagerplatz hat sich verändert.
Nein, nicht verändert!
Irgend etwas, irgend jemand steht unmittelbar am Wasser.
Explosionsartig überschwemmt mich ein Strom Adrenalin und auch die beginnende Kühle in meinem Körper verwandelt sich in einen blitzartigen Wärmeschub.
Sofort stelle ich jede Schwimmbewegung ein und beobachte die kleinen, von mir ausgehenden Wellen, bis sie den Strand erreichen und den weichen Sand zart streicheln, aber in Gedanken sehe ich riesige Brecher, die an Land branden und mich verraten.
Ich weiß, ich wurde längst entdeckt und der Fremde lässt mich nicht mehr aus den Augen. Aus diesem Wasser kann ich ihm nicht entkommen. Trotz größtem Wiederstreben setze ich meine Schwimmbewegungen fort, jedoch noch langsamer und bedächtiger als vorher.
Mit jeder Bewegung erkenne ich mehr Details des Fremden.
Ein Mann, der nicht unpassender gekleidet hätte sein können. Deutlich erkenne ich einen riesigen, tiefschwarz glänzenden Zylinder und einen makellos sitzenden Anzug oder Frack, wie ich ihn nur aus alten Filmen kenne.
Auf den letzten zwanzig Metern entdecke ich einen hageren, großen, aufrechtstehenden, nicht mehr ganz jungen Gentleman - eine andere Bezeichnung fällt mir nicht ein - mit vollem, leicht ergrautem Bart und die Würde dieses Mannes liegt deutlich in der Luft.
Ich kenne diesen Mann, natürlich kenne ich ihn.
Ein heftiger Schlag gegen mein linkes Knie zeigt mir schmerzhaft an, ich habe das Ufer bis