Lotti schaut von ihrem Geschriebenen auf und berichtet: „Miriam von Zimmer 12 hat sich übergeben, es geht ihr aber jetzt wieder besser. Lisa auf der 14, hatte starke Schmerzen, ich habe ihr 250 mg Paracetamol gegeben. Und wir haben einen Neuzugang auf der 18. Ein fünfjähriger Junge, Luca, mit einem Fieberkrampf.“ Isabel nickt konzentriert und trinkt einen Schluck von ihrem Kaffee.
Nach einigen Minuten steht sie auf und beginnt ihren morgendlichen Rundgang durch die Patientenzimmer. Als letztes geht sie zu Zimmer 18, öffnet nach kurzem Anklopfen die Tür und tritt ein.
Eine kleine zerbrechliche Gestalt blickt ihr aus dem großen Bett entgegen. Lächelnd geht sie zum Fenster und zieht die Gardinen zur Seite. Sonnenstrahlen durchfluten das freundlich eingerichtete Einbett-Zimmer. „Guten Morgen Luca“, sagt sie freundlich. Der Junge schaut sie mit großen Augen an. Isabel nimmt sich das Patientenblatt, welches am Fußende in einer Halterung steckt und überfliegt schnell die wichtigsten Daten. „Du kommst also aus Italien? Verstehst du mich? Sprichst du deutsch?“
Ein schüchternes Lächeln huscht über Lucas Gesicht: „Ja“.
„Wie geht es dir heute?“, fragt sie ihn freundlich und ruhig.
Tränen steigen ihm in die Augen während er wimmert: „Ich will nach Hause zu meiner Mama.“
Isabel liebt ihren Job als Kinderkrankenschwester, aber solche Situationen fürchtet sie, denn es gibt keine Regel, wie man sich am besten verhält. Auf jedes Kind muss man anders eingehen, wenn es Heimweh hat. Langsam setzt sie sich zu ihm aufs Bett und legt seine kleine Hand in ihre. „Wie alt bist du denn Luca?“, fragt sie behutsam.
Er schaut ihr in die Augen und antwortet schluchzend: „Fünf.“
„Schon fünf? Dann hast du sicherlich einen Superhelden, den du ganz toll findest.“
Luca braucht nicht lange zu überlegen: „Ja, Spiderman!“, ruft er stolz.
„Wow! Spiderman! Ja, der ist wirklich toll!“, bemerkt Isabel bewundernd. „Was gefällt dir an Spiderman denn besonders gut?“ Ihre Taktik scheint aufzugehen.
Luca ist gedanklich so mit seinem Superhelden beschäftigt, dass seine Tränen mittlerweile getrocknet sind und er sich aufgeregt aufsetzt. „Er ist stark und hat nie Angst. Außerdem besiegt er die Bösen und er kann mit seinem Spinnennetz so schnell nach oben fliegen, dass ihn keiner mehr sieht.“
Isabel holt ein Fieberthermometer aus ihrer Tasche und zeigt es Luca. „Weißt du was das ist?“, fragt sie ihn geheimnisvoll. Der Junge schüttelt den Kopf. „Das ist ein Fieberthermometer. Ich lege es dir unter den Arm und wir warten bis es piepst. Und während wir warten, erzähle ich dir ein Geheimnis.“ Luca wird neugierig und hebt freiwillig seinen rechten Arm, damit Isabel das Thermometer darunter legen kann.
Dann greift Isabel erneut in die Tasche ihrer Schwesterntracht und holt drei verschiedenfarbig verpackte, kleine runde Bonbons hervor. Die haben sich in so manchen Situationen schon bewährt. Langsam öffnet sie die Hand. Lucas Blick fällt auf die Süßigkeiten. Irritiert kräuselt er die Stirn. In verschwörerischem Ton fängt Isabel leise an zu sprechen: „Pass auf, das sind drei ganz besondere Bonbons.“ Sie lässt diesen Satz auf Luca wirken. Er reißt die Augen neugierig auf.
„Das Rote… das verleiht dir Powerkraft. Aber nicht so eine Kraft, mit der du Autos heben kannst oder große Männer durch die Luft schleudern. Nein, es gibt dir die Kraft mit allem fertig zu werden, was dir Angst macht. Wenn du es isst, wird alles, wovor du gerade Angst hast, harmlos und gut.“
Lucas Augen werden immer größer und er will sich sofort das rote Bonbon schnappen. Isabel schließt jedoch schnell die Hand und schüttelt den Kopf. „Nein, warte!“ Luca zieht seine Hand zurück und hört ihr weiter gespannt zu.
„Das Gelbe …. das gibt dir Powergeschwindigkeit. Wenn du das isst, kannst du superschnell laufen. Und das Blaue … das macht dich unsichtbar.“
Aufgeregt platzt Luca heraus: „Echt, richtig unsichtbar? Dass mich keiner mehr sieht? Dann kann ich meine Schwester ärgern, ohne dass sie merkt, dass ich es bin?“
„Nein so ganz funktioniert es nicht. Die Kräfte sind nur da, um dich zu beschützen. Wenn dich etwas bedroht oder du vor etwas Angst hast, dann hilft es dir. Das Blaue macht dich nur soweit unsichtbar, dass dir nichts passieren kann.“
Isabel nimmt Lucas Hand und legt die Bonbons vorsichtig in seine kleine Handfläche. Leise sagt sie: „Überleg aber genau, wann du sie benutzt. Du hast nur diese drei Stück!“ Ehrfürchtig nickt Luca und überlegt wo er sie verstecken könnte. Er greift nach seinem dunkelbraunen Teddy, öffnet die kleine Tasche der roten Latzhose und steckt die Bonbons einzeln hinein. Dann verschließt er den Reißverschluss wieder sorgfältig und legt sein Stofftier neben sich.
Plötzlich piepst das Thermometer. Isabel holt es unter Lucas Achsel hervor und stellt beruhigend fest, dass seine Temperatur im Normalbereich liegt.
Sie steht auf und notiert die neuen Daten auf dem Krankenblatt.
„Bist du eine gute Fee?“, fragt Luca geheimnisvoll.
„Eigentlich nicht, aber ich habe das Glück, dass ich kleinen Kindern diese Bonbons geben darf.“
„Mit deinen langen blonden Haaren schaust du aber aus wie eine Fee“, flüstert er ehrfürchtig.
„Ich muss jetzt noch die anderen kranken Kindern besuchen, aber ich komme später noch einmal zu dir, ja?“, sagt Isabel lächelnd, steht auf und verlässt das Zimmer.
Kapitel 3
HEUTE
Wie jeden Morgen bin ich bereits sehr früh wach. Der Hahn kräht und das Treiben im Dorf beginnt. Ich gehe zum einzigen Brunnen im Dorf und schöpfe einen Eimer frisches Wasser. In unserer Wohnhütte wasche ich mich und putze mir schnell die Zähne. Glücklicherweise bin ich, was meine kurzen dunkelbraunen Haare angeht, sehr anspruchslos und benutze auch kein Make-up. Das wäre in dieser Umgebung auch eher hinderlich und nicht sehr sinnvoll.
Mittags sind die meisten Einwohner mit ihren täglichen Aufgaben beschäftigt. Die Frauen putzen die Hütten, bereiten das Essen zu, kümmern sich um die Kinder und die Männer sind unterwegs im Busch auf der Jagd. Heute übernimmt Anna die Dorfschule. An drei Tagen in der Woche unterrichte ich die Kinder in Lesen, Schreiben und Rechnen. Anna unternimmt mit den Kindern an den verbleibenden beiden Tagen Reisen in die Welt der Biologie, Erdkunde oder Geschichte. Dabei stößt sie oft an ihre Grenzen, da gerade die älteren Kinder von der Biologie der heimischen Pflanzen mehr Ahnung haben, als irgendein Lehrer.
Ich überprüfe gerade die Restbestände unserer Medikamente, als ich zwei Fahrzeuge höre. Neugierig trete ich aus der Tür und halte mir eine Hand über die Augen, um sie vor der blendenden Sonne abzuschirmen. Zwei Jeeps fahren die staubige Straße bis zur Dorfmitte entlang. Die Fahrzeuge halten und es steigen jeweils drei Personen aus. Einer trägt eine Kamera, einer ein Stativ und ein großes Mikrofon und eine Frau einige Fotoapparate. Verdammt, wie haben die sich denn hierher verirrt? Mona kommt aus unserer Hütte und geht sogleich auf die Neuankömmlinge zu. Ich ziehe mich zurück in mein Haus und schließe die Tür hinter mir. Die werden hoffentlich bald bemerken, dass sie hier falsch sind und wieder weiterfahren.
Wenig später erscheint Mona in meiner Hütte: „Mia, das sind drei Promis, die für den Red-Nose-Day zu uns kommen. Sie wollen sich alles ansehen und werden auch für dieses Dorf eine großzügige Spende leisten.“
Ich verziehe mein Gesicht. „Mona, du weißt, dass ich nichts mit der Presse und dem Fernsehen zu tun haben will.“
„Ich weiß, aber für unser Dorf ist das wirklich wichtig.“
„Wie kommen die überhaupt auf uns? Sind die