Herras verstand kein Wort von dem, was Kalerid sagte, und selbst wenn er der sellagischen Sprache mächtig gewesen wäre, hätte er auch kaum Gelegenheit gehabt, der Ansprache zu folgen. Die Wachen befreiten ihn von den schweren Ketten und auch die Hand- und Fußfesseln wurden ihm abgenommen. Dann stießen sie ihn vom Wagen. Durch das lange, bewegungslose Ausharren fehlte ihm jedes Gefühl in den Beinen und er fiel haltlos wie ein Stein ins Gras. Während sie ihn brutal auf die Füße rissen, konnte Herras einen Blick nach Westen werfen, wo in weiter Ferne Alland Pera auf dem sanften Hügel, der das Land überragte, zu erkennen war. Noch vor kurzer Zeit musste es ein herrlicher Anblick gewesen sein, die Stadt von diesem Ort zu betrachten, und Herras wünschte sich, er hätte ihn zumindest einmal in seinem Leben genießen können. Jetzt war nichts mehr von der strahlenden Pracht übrig geblieben. Grauer Dunst umhüllte die verbrannten Gebäude und ließ die Stadt unwirklich erscheinen. Der Schmerz, den er verspürte, als sich die langen Krallen der Sellag-Wachen in seine Oberarme bohrten, riss ihn aus seinen Gedanken und brachte ihn wieder in seine eigene harte Realität zurück. Die beiden Sellag stützten ihn widerwillig, nur um zu verhindern, dass er wieder das Gleichgewicht verlor, während Kalerid seine letzten Worte sprach.
Eine weitere Handbewegung folgte und die Wachen drängten Herras näher an den Wald heran, bis er direkt an dessen Rand stand, dort wo das weiche Gras von herabgefallenem Laub bedeckt wurde. Sein Blick war dem tiefen Dunkel zugewandt, das vor ihm lag und er gewann den Eindruck, dass der Wald ihn verschlingen würde, sobald er auch nur einen Fuß hineingesetzt haben würde. Im Vergleich zu dem hellen Sonnenschein, der die gesamte Wiese erfüllte, schien der Wald wie eine düstere Höhle, in der die Gefahren nur darauf warteten, über das erste lebende Wesen herzufallen, das es wagte, in ihn vorzudringen.
Herras bemerkte nicht, dass Kalerid von hinten an ihn herantrat. Der Wald und seine dunkle, magische Anziehungskraft ließen ihn nicht mehr los - er zog ihn an und schreckt ihn zugleich ab. Erst als Kalerids übel riechender Atem in seine Nase stach und er hörte, wie er ihm leise, aber gefährlich etwas zuflüsterte, wurde er sich seiner Anwesenheit bewusst.
»Lauf... lauf um dein Leben, du erbärmliche Kreatur«, zischte der Heerführer ihm in der Sprache, die er verstand, ins Ohr. Herras begann zu ahnen, was sie mit ihm vorhatten und sein Herz fing an zu rasen.
Lachend drehte sich Kalerid um und ging wieder ein Stück aus den Schatten, die die mächtigen Bäume warfen, zurück in das helle Sonnenlicht.
Die Wachen ließen Herras los und gaben ihm noch einen kräftigen Stoß in die Lenden. Ohne sich nochmal umzusehen, stolperte Herras los. Er wusste, dass sie ihm bald dicht auf den Fersen sein würden. Sie würden ihn jagen, bis sie ihn in ihren Krallen hatten. Er würde wohl nicht weit kommen. Trotzdem rannte er, so schnell ihn seine Füße trugen, geradewegs in den Wald hinein, der wie ein weit aufgerissenes Maul auf ihn zu warten schien. Das Gefühl in seinen Beinen kehrte nun allmählich zurück, sein Blut raste durch seine Adern, trotzdem wankte er noch und hatte Mühe, voranzukommen. Nach wenigen Barret stolperte er über eine Wurzel und fiel. Er rappelte sich wieder auf und rannte weiter, ohne nachzudenken. Es war seine einzige Chance und er würde sie nicht verstreichen lassen.
Die Truppenführer starrten ihm gebannt nach, als er im Dunkel des Waldes verschwand. Speichel rann über ihre entblößten Eckzähne und sie hatten ihre Schwerter gezogen. In angespannter Erwartung scharrten sie mit ihren Füßen, hofften darauf, dass ihr Anführer endlich das Kommando geben würde. Kalerid zögerte den Moment noch ein wenig hinaus und mit jeder verstrichenen Kil steigerte sich seine Freude. Der Tod des Königs würde jeden Zweifel an seiner Herrschaft auslöschen.
Endlich war es soweit. Kalerid hob die Hand und wandte sich seinen Truppenführern zu. »Lasst die Jagd beginnen«, fauchte er und noch ehe die Worte völlig ausgesprochen waren, stürmte die Meute los, in den Wald hinein. Kalerid bedauerte fast, dass er nicht dabei sein konnte.
Herras hörte ihre Schreie, als sie seine Verfolgung aufnahmen. Es war ihm bereits gelungen, ein ganzes Stück in den Wald vorzudringen und je tiefer er kam, desto dichter wurde das Unterholz. Immer öfter stolperte er auf dem unebenen Boden oder blieb an den Zweigen der niedrigen Sträucher hängen. Bald war seine Kleidung zerrissen und scharfe Dornen verursachten unzählige kleine Wunden auf seiner Haut. Die Bäume rückten immer dichter beisammen und es kostete ihn viel Kraft, ihnen auszuweichen. Ihre Stämme waren kahl, aber ihre Wipfel waren dicht mit Laub bewachsen, das sich nun im Herbst braun zu verfärben begann.
Der Hauptmann des Königs von Allendas rannte weiter, so schnell, wie er in seinem ganzen Leben noch nie gerannt war. Sein Atem ging stoßweise und sein Herz klopfte heftig und schmerzhaft gegen seinen Brustkorb. Aber als er einen hastigen Blick über seine Schulter warf, trieb es ihn dazu, seine Schritte weiter zu beschleunigen.
Er konnte sie sehen. Ihre gebückten Körper hasteten hinter ihm her und zeichneten sich als Schatten im fahlen Licht gegen den hellen Waldrand ab. Er konnte ihr Getrampel näher kommen hören.
Die Sellag hetzten wild hinter ihrem Opfer her. Auf allen Vieren und mit hängenden Zungen kämpften sie sich durch das dichte Gebüsch. Ihre Schwerter hielten sie mit ihren langen Fingern fest umklammert oder hatten sie gleich zwischen ihre Zähne geklemmt.
Die Gruppe Sellag kam nicht so gut voran, wie sie es sich erhofft hatten. Die ungewohnte, dichte Fauna machte den, an felsige und kahle Gebirgsgegenden gewöhnten Kreaturen, schwer zu schaffen. Immer wieder schlugen ihnen Zweige ins Gesicht oder sie verfingen sich in den stellenweise hoch wachsenden Gräsern.
Zudem war die von Kalerid bereits erhoffte Rivalität innerhalb der Gruppe aufgetreten. Die Truppenführer kämpften gegeneinander und behinderten sich in ihrer Jagd gegenseitig, denn sie kämpften nicht für eine gemeinsame Sache und waren sich selbst ihre ärgsten Gegner. Es konnte nur einen stellvertretenden König geben und jeder würde alles für dieses viel versprechende Ziel geben. So kam es, dass immer öfter einer der Sellag durch einen heftigen Stoß in die Rippen oder einen gezielten Schlag auf den Schädel von einem anderen niedergestreckt wurde und sich erst wieder mühsam aufraffen musste, bevor seine Jagd weitergehen konnte.
Als die Hetzjagd bereits über fünfzig Kils andauerte, waren nur noch fünf der zuvor zehn Verfolger übrig. Zwei hatten sich gegenseitig die Kehle durchgeschnitten, zwei weitere waren von Kalmog, dem größten und kräftigsten der Verfolger erschlagen worden, der Fünfte hatte seinem Leben selbst ein Ende gesetzt, als er unachtsam und in blinder Gier gegen einen Baum gerannt war. Der Aufschlag hatte ihm den Schädel zerschmettert und sein spritzendes Blut hatte noch die Gräser einige Barret weit entfernt dunkelrot verfärbt.
Herras bekam kaum etwas von alldem mit. Er rannte und rannte, ohne sich ein weiteres Mal umzusehen, immer in der furchtbaren Erwartung, dass einer seiner Verfolger ihm von hinten in den Rücken fallen und sich auf seinen Hals stürzen würde. Verzweiflung machte sich in ihm breit. Er spürte, wie seine Kräfte nachließen. Seine Beine zitterten und jeder Schritt wurde mehr und mehr zur Qual. Die Rufe der Sellag dröhnten in seinen Ohren, obwohl sie noch ein ganzes Stück hinter ihm waren, und übertönten sogar noch das Rauschen seines rasenden Blutes.
Kornos war seinem Opfer am dichtesten auf den Fersen. Er war der Besonnenste der wilden Gruppe, er hatte seine Zeit nicht damit verschwendet, sich mit den anderen zu zanken oder zu versuchen, seine Mitstreiter aus dem Weg zu schaffen. Das hatte ihn weit nach vorne gebracht. Zudem verfügte er über die beste körperliche Kondition, wobei er weniger massig war als Kalmog, aber über eine ausgeprägte Muskulatur verfügte. Kornos hatte die anderen Sellag weit hinter sich gelassen und sah Herras deutlich vor sich. Doch trennte ihn noch ein gutes Stück von seinem Triumph.
Weitere dreißig Kils später konnte Herras sich kaum noch auf den Beinen halten. Er stolperte nur noch mühsam. Jeden Schritt musste der Mensch sich schwer erkämpfen. Kornos sah seinen Sieg nun deutlich vor Augen. Er sah, dass sein Opfer kurz vor dem endgültigen Zusammenbruch stand und das gab ihm noch weiteren Antrieb. Es war nur noch eine Frage der Zeit.
Die restlichen Truppenführer