Herras bemerkte ihre fein und elegant geschnittenen Gesichtszüge, ihre großen, grünen Augen und ihre langen, roten Locken. Das Mädchen reichte ihm mit zierlichen Händen den Becher und Merit stützte ihn, als er sich aufrichtete, um in hastigen, kurzen Zügen davon zu trinken. Die Flüssigkeit benetzte seine trockenen Lippen und seinen ausgedörrten Gaumen, stillte seinen brennenden Durst und gab ihm neue Kraft. Dabei machte sie ihn wunderbar schläfrig, und als er auf sein Kissen zurücksank, hatte er das Gefühl, als könne er hundert Jahre und länger schlafen.
Das Mädchen nahm ihm den Becher wieder ab und sah ihn mit einem bezaubernden Lächeln an. »Mein Name ist Maleris. Meine Mutter ist die Heilerin unseres Stammes. Ich hoffe, ich konnte Euch Eure Leiden ein wenig erträglicher machen.«
Erst jetzt blickte Herras an sich herab, sah, dass man ihm seine Kleidung entfernt und seinen Körper mit einer braunen Decke verhüllt hatte. An den unbedeckten Stellen konnte er eine grüne Paste erkennen und er bemerkte, dass er kaum mehr Schmerzen verspürte. Nur seine Müdigkeit erinnerte noch an die Strapazen, die er erlitten hatte.
»Ja, das habt Ihr sehr wohl«, entgegnete er. »Ich bin Herras... » Maleris hinderte ihn daran, weiter zu sprechen, indem sie einen Zeigefinger an ihre sanft geschwungenen Lippen legte und ihm deutete, still zu sein.
»Ihr solltet nicht so viel sprechen, Herras. Ruht Euch aus. Ihr benötigt Schlaf.« Ihre Stimme verzauberte ihn mit ihrem Klang.
»Ja«, fügte Merit hinzu, »gönnt Euch nun Ruhe. Wir werden später über alles sprechen können.«
Gehorsam schloss Herras seine Augen und es dauerte nicht lange, da war er in einen tiefen, traumlosen Schlaf gefallen.
Herras schlief die ganze Nacht und als er am nächsten Morgen erwachte, fühlte er sich erholt und viel kräftiger. Maleris kam und brachte ihm etwas zu essen. Danach erlaubte sie ihm aufzustehen und umherzuwandern, solange er sich nicht überanstrengte. Sie führte ihn durch das Lager, erzählte ihm viele Dinge über ihr Volk, und Herras bestaunte die Lebensweise dieser fremden Kultur. Die Lemberusken oder auch Waldmenschen, wie sie sich selbst nannten, unterschieden sich völlig von den Allendassern. Sie waren ein Wandervolk und zogen mit ihren Zelten durch den Wald, bis sie eine Stelle fanden, die ihnen gefiel. Dort ließen sie sich dann für einige Zeit nieder. Sie ernährten sich von dem, was ihnen der Wald bot. Herras erfuhr, dass es über einhundert Stämme gab, die auf diese Weise in den weitläufigen Wäldern von Lemberus lebten. Ihre Zahl schwankte, denn immer wieder gab es Gemeinschaften, die sich trennten oder sich zusammenschlossen. Sie teilten sich auf in nördliche und südliche Stämme. Warum das so war, erfuhr Herras allerdings nicht. Der Stamm Andor gehörte zu den südlichen Stämmen. Andor war ein verhältnismäßig kleiner Stamm, er zählte nur an die hundert Waldmenschen. Es gab jedoch auch Stämme, denen sogar weit über fünfhundert Waldmenschen angehörten.
Die Männer waren gekonnte Jäger, die Frauen sammelten Beeren und Kräuter. Alles was sie zum Leben brauchten, fertigten sie aus Holz. Ihre Schwerter und Dolche waren die einzigen Gegenstände, die aus Metall geschmiedet worden waren, stellte Herras überrascht fest und Maleris erklärte ihm, dass sie schon sehr alt waren. Die Lemberusken verfügten nicht über die Fähigkeit, neue Schwerter anzufertigen und sie besaßen auch nicht die Rohstoffe dafür, deshalb pflegten sie die kostbaren Stücke, die bereits seit unzähligen Generationen von Vater zu Sohn weitergeben worden waren.
Herras bewunderte besonders die Bauweise der Zelte. Sie waren aus graubraunem oder grün eingefärbtem Leder, mit Tiersehnen zusammengenäht und passten sich perfekt ihrer Umgebung an. Zwischen den Bäumen waren sie kaum zu erkennen. Auch ihre Kleidung fertigten die Waldmenschen aus weichem Leder und sie kleideten sich in denselben Farben, sodass sie mühelos zwischen den Bäumen verschwinden konnten. Nur die Haare der Lemberusken waren eine Abwechslung zwischen den Erdtönen, die ihre Umgebung beherrschten. Alle miteinander hatten rotbraunes bis hellrotes Haar, das sich bei den Älteren schneeweiß färbte und sich meist in widerspenstigen Locken wellte. Die Waldmenschen hatten ein freundliches und offenes Gesicht, auf dem sich oft ein breites Lachen zeigte. Überhaupt schienen die Lemberusken friedvolle und fröhliche Geschöpfe zu sein, die gerne lachten. Das ganze Lager war von den Lauten ihrer angenehmen Stimmen erfüllt und hin und wieder stimmten sie ein Lied an, während sie ihrer täglichen Arbeit nachgingen. Kinder liefen spielend und jauchzend zwischen den Erwachsenen herum und es erschien Herras, als müssten sie die glücklichsten und unbeschwertesten Lebewesen auf der Welt sein.
Mitten auf dem großen, von Zelten umschlossenen Platz 6), saß Sollas auf seinem bescheidenen Thron und beobachtete mit wachsamen Augen das Tun seines Volkes. Ab und zu streifte sein wohlwollender Blick Herras, den dieser dankbar erwiderte.
Überhaupt überraschte es Herras, wie freundlich und offenherzig ihn die Gemeinschaft aufnahm. Sie legten ihre Scheu, mit der sie wohl jedem Fremden gegenüber traten (von denen auch nicht sehr oft welche zu ihrem Stamm kamen), schnell ab und begegneten ihm mit liebenswürdigem und großherzigem Gebaren, sodass Herras sich bald als ein willkommener Gast fühlte. Sie ähnelten nicht im Geringsten den Wesen aus dem gruseligen und schaurigen Märchen, die er in seiner Kindheit über die Bewohner des dunklen Waldes gehört hatte.
Maleris stellte ihm viele ihrer Freunde vor und ihm schwirrte bald der Kopf von den vielen ungewohnt klingenden Namen. Er ertappte sich immer wieder dabei, wie er das hübsche und grazile Mädchen mit großen Augen bewunderte. Sie hatte etwas, das ihn magisch in ihren Bann zog, aber er riss sich immer wieder zusammen und zwang sich, seinen Blick abzuwenden.
Trotz der angenehmen Lage, in der er sich momentan befand, vergaß Herras nicht sein eigenes Volk und das Leid, das es ertragen musste. Er hatte bereits den festen Entschluss gefasst, zu versuchen, sein Land zu befreien, egal was es ihn kosten würde. Nur wusste er noch nicht, welchen Weg er dafür wählen sollte, denn er war allein und der Feind ihm weit überlegen.
Am frühen Nachmittag kam Merit von einer erfolgreichen Jagd zurück und er zeigte ihm, ein wenig abseits der Zelte, einige Kunststücke mit seiner Armbrust, die er in Herras’ Augen beherrschte, wie kein anderer (zugegebenermaßen hatte Herras auch noch niemand anderen mit einer Armbrust umgehen sehen). Dann gab der Waldmensch Herras einige Unterweisungen im Umgang mit seiner Waffe. Der Mensch erwies sich als gelehriger Schüler, denn nach wenigen Schüssen konnte er zumindest leidlich mit der Armbrust umgehen, auch wenn er noch weit davon entfernt war, es mit Merits Künsten aufnehmen zu können. Merit versprach, ihm eine seiner Waffen zu überlassen, wenn der Mensch weiterziehen würde, denn er würde etwas brauchen, mit dem er jagen und sich verteidigen konnte, wenn er allein im Wald unterwegs war. Auch versprach Merit dem Menschen, ihm noch weitere Unterrichtsstunden im Gebrauch der Waffe zu geben, damit er sein erworbenes, leidliches Können noch verbessern konnte.
Als der Abend hereinbrach, kehrten sie in das Lager zurück. Die Vorbereitungen für das gemeinsame Abendmahl waren bereits in vollem Gange und es wurde als selbstverständlich angesehen, dass Herras daran teilnahm. Wenig später nahmen alle in dem großen Kreis auf dem Boden oder auf Baumstämmen und -stümpfen Platz und es wurde in ausgelassener Stimmung das Mahl eingenommen. Es gab gebratenes Fleisch der erlegten Hirsche und Waldhasen, dazu Brot und Gemüse, das aus den gesammelten Pflanzen zubereitet worden war, frisches Quellwasser und kalten Tee. Herras erschien es, als hätte er in seinem Leben nie etwas Besseres gegessen. Der Tag an der frischen Waldluft hatte ihn hungrig gemacht und er griff reichlich zu.
Man hatte ihm den Platz links neben Sollas zugewiesen. Für gewöhnlich war Merit, als jüngerer Sohn des Anführers, dieser Platz vorbestimmt, aber er trat ihn gerne an den Gast ab und begnügte sich mit dem Platz neben Herras. Korin saß rechts von Sollas. Herras erfuhr, dass er Merits älterer Bruder war, und als er näher hinsah, bemerkte er auch die Ähnlichkeit zwischen den beiden Männern.
Als das Essen beendet war und Herras sich satt und behaglich mit gekreuzten Beinen an einen Baumstumpf zurücklehnte, richtete Sollas das Wort an ihn. Der Stammesvater hatte sich während der Mahlzeit mit seinen Jägern über den vergangenen und die Vorhaben für den kommenden Tag unterhalten, doch jetzt wollte er sich ihrem Gast widmen. Er sah Herras mit klaren und durchdringenden Augen an.
»Nun Herras, jetzt wo wir gegessen und die Bedürfnisse unseres Körpers gestillt haben,