Als sie endlich den Schlosshof erreichten, war sein Gesicht mit unzähligen Schürfwunden übersät. Er hatte eine Platzwunde auf der Stirn und seine Schultern und Nackenmuskeln waren gezerrt. Die Sellag scherten sich nicht darum. Sie warfen ihn auf einen offenen Pferdekarren, wie ihn die Bauern in Allendas verwendeten, und zwangen ihn auf die Knie. Mit schweren Eisenketten wurde er gefesselt, bis er sich nicht mehr bewegen konnte. Seine vier Peiniger hockten sich neben dem Wagen auf den Boden und ließen ihn nicht aus den Augen, um ihm nicht die geringste Möglichkeit auf eine Flucht einzuräumen. Aber an Flucht wäre in seiner momentanen Lage ohnehin nicht zu denken gewesen.
Es dauerte nicht lange, dann wurden Herras’ Beine taub. Sein Nacken schmerzte und Blut floss aus dem Riss auf seiner Stirn in sein linkes Auge. Er konnte nicht abschätzen, wie lange er so ausharren musste. Es erschien ihm wie eine Ewigkeit, doch im Nachhinein war es eine viel zu kurze Zeit. Er versuchte sich zu entspannen, versuchte Kraft zu schöpfen, für das, was auf ihn warten würde, aber er konnte seine ständig kreisenden Gedanken nicht beruhigen. Der Heerführer würde ihm seinen Tod nicht leicht machen, soviel war ihm klar, aber welche Gräueltat sich der neue Herrscher über Allendas für ihn ausgedacht hatte, vermochte er noch nicht zu erahnen.
Nach und nach trafen die ersten Truppenführer im Schlosshof ein. Aus dem, was er erfahren hatte, schloss Herras, dass sie sich im Land verstreut aufgehalten hatten. Doch allzu weit konnten sie nicht von der Hauptstadt entfernt gewesen sein. Dafür war nicht genug Zeit vergangen. Allendas war zwar kein besonders großes Land, doch ein geübter Reiter brauchte immerhin drei Tage, um es von Norden nach Süden zu durchqueren. Herras schätzte, dass er vier- oder fünfmal fünfzig Kils 4) im Hof ausgeharrt hatte. Marek musste es gelungen sein, in dieser kurzen Zeit Boten auszusenden, die den Truppenführern die Nachricht ihres Befehlshabers übermittelten, sich im Schloss der Hauptstadt einzufinden. Die Truppenführer schienen diesem Befehl nur zu gerne gefolgt zu sein. Jetzt mussten es noch ungefähr zweimal fünfzig Kils bis zum Mittag sein und es hatten sich bereits acht der erwarteten zehn Sellag im Schlosshof eingefunden. Begeistert unterhielten sie sich mit den Anwesenden und berichteten von ihren Taten. An den freudig entblößten Reißzähnen und den Jubelrufen ihrer Zuhörer konnte Herras erkennen, dass sie sehr erfolgreich gewesen sein mussten und ihm wurde das Herz mit jeder verstreichenden Kil schwerer. Wie mochte es nun in dem einst schönen Land aussehen?
Die Herbstsonne hatte bereits ihren höchsten Stand überschritten, als Kalerid, gefolgt von Marek und zwei weiteren Sellag, den Hof betrat. Er lief auf seinen Hinterbeinen und hielt den Kopf hoch erhoben, um einen möglichst würdevollen Eindruck zu machen. Seine Truppenführer begrüßten ihn mit lautem Beifall und Jubelrufen. Herras konnte nicht einmal den Kopf heben, um den Auftritt zu verfolgen, aber ihm lag auch nicht sehr viel daran.
Kalerid richtete ein paar Worte an seine Krieger und die begeisterten Rufe wurden nochmals lauter.
Dann bestieg der Heerführer das Pferd, das man für ihn ausgewählt hatte. Es war das größte und prächtigste Pferd, dass sie in den königlichen Stallungen hatten finden können. Es war Samlas, das Pferd des Königs.
Man brauchte kein geübter Reiter zu sein, um zu erkennen, dass Kalerid zum ersten Mal in seinem Leben auf einem Pferd saß. Seine Haltung war ungelenk, wirkte verkrampft und auch Samlas, der schöne Rappe, schien über seinen neuen Reiter unglücklich zu sein. Er bockte und bäumte sich unter Kalerid auf. Beinahe wäre der Sellag rücklings auf das Pflaster des Schlosshofes gefallen, aber es gelang ihm, sich mit seinen langen Fingern am Zaumzeug festzukrallen und diese Peinlichkeit zu verhindern. Bei der Unruhe, die plötzlich im Schlosshof herrschte, zwang sich auch Herras, den Kopf zu heben und auf den Tumult zu schielen. Hätte er einen letzten Wunsch gehabt, so hätte er sich gewünscht, dass Kalerid von dem Pferderücken stürzte und sich das Genick brach, aber dieser Wunsch wurde ihm verwehrt.
Samlas beruhigte sich langsam und Kornos, der Truppenführer, der als Letzter eingetroffen war, da er den weitesten Weg hinter sich hatte, lenkte sein Pferd ein wenig näher an Kalerid heran und gab ihm leise einige Instruktionen im Umgang mit diesen Tieren. Man sah, dass er schon geübter war und Kalerid hörte ihm einen Augenblick zu. Er versuchte Kornos Haltung nachzuahmen und nach einer Weile saß er tatsächlich sicherer im Sattel. Als Dank gab er Kornos einen kräftigen Stoß in die Rippen; Höflichkeit war bei den Sellag auch untereinander keine weit verbreitete Eigenschaft. Der Truppenführer fügte sich wieder in die Reihe der anderen.
Auf einen kurzen Befehl des Heerführers hin setzte sich der Trupp in Bewegung. Allen voran Kalerid, flankiert von Marek und einigen anderen Sellag, die keine Pferde zugeteilt bekommen hatten. So liefen sie abwechselnd auf zwei oder vier Beinen neben dem Ross ihres Herrn. Entweder hatte der Heerführer seinen Untergebenen keine Rösser zugestanden, oder ihnen waren die Reittiere nicht geheuer. Hinter Kalerid folgte der Karren, auf dem sich Herras befand. Der Wagen war angespannt worden und wurde von einem kräftigen Sellag gelenkt. Neben dem Pferdefuhrwerk ritten Kornos und ein weiterer Truppenführer, dahinter kamen in Zweierreihen die acht anderen. Hinter den Truppenführern marschierte noch eine Gruppe von etwa zwanzig Sellag aus Kalerids Hofstaat, die dem Zug ebenfalls zu Fuß folgen mussten; darunter waren auch die vier Wachen, die Herras in der Nacht hinunter auf den Hof gebracht hatten.
Langsam verließ der Trupp den Schlosshof durch das große Tor und bog in die Hauptstraße von Alland Pera ein, die geradewegs den Hügel hinunter zum östlichen Schlosstor führte. Sie kamen nur stockend voran. Kalerid fühlte sich keineswegs sicher auf seinem Pferd und zog es vor, nicht schneller zu reiten, als es unbedingt nötig war. Herras bekam dadurch die Gelegenheit, festzustellen, welche Verwüstungen in der Stadt angerichtet worden waren. Obwohl die Erschütterungen des Wagens seinem schmerzenden Nacken noch mehr zusetzten, konnte er seinen Blick nicht abwenden. Viele der kleinen Häuser waren niedergebrannt, die Gärten zertrampelt. Die Fenster waren zerbrochen und die Türen eingetreten. Es war ein Bild des Jammers. Wo er hinsah, liefen Sellag herum. Sie plünderten die Häuser, die sie übernommen hatten, und schafften die Leichen der Menschen weg, die auf den Straßen lagen. Männer, Frauen, Kinder - sie hatten kein Erbarmen gekannt. Lebende Menschen konnte Herras nirgendwo entdecken und er begann sich zu fragen, ob überhaupt jemand das furchtbare Gemetzel überlebt hatte.
Als sie das östliche Stadttor passiert hatten, musste Herras mit ansehen, was die Sellag mit den sterblichen Überresten der getöteten Menschen taten. Etwa tausend Barret von Alland Pera entfernt, hatten die Fremdlinge einen riesigen Scheiterhaufen errichtet. Widerlich stinkender Rauch stieg in einer schwarzen Wolke davon auf. Herras musste gegen seine aufsteigende Übelkeit ankämpfen. Immer mehr Leichen wurden auf den Haufen geworfen und die Flammen leckten gierig nach ihnen.
Herras senkte den Kopf und gedachte der Toten. Wie viele davon mochte er wohl gekannt haben? In ihm keimte der Wunsch auf, ihnen so schnell wie möglich in Hembras’ Reich zu folgen. Wie jedes Volk, glaubten auch die Allendasser an einen Schöpfer, denen sie die Gunst oder die Last (je nach der momentanen Lage) ihres Seins verdankten. Die Allendasser nannten ihn Hembras.
Bald hatten sie den Scheiterhaufen hinter sich gelassen, aber Herras glaubte, den üblen Geruch der verbrannten Körper noch immer in der Nase zu haben. Sie befanden sich weiterhin auf der Straße nach Osten, die sie durch grüne saftige Wiesen, zwischen Hügeln und kleinen, friedlichen Tannenhainen entlang führte. Der Schönheit des Landes hatte die schreckliche Belagerung noch nichts anhaben können. Es war ein lauer Herbsttag und die Vögel sangen, denn sie ahnten nicht, welche dunkle Gewalt sich des Landes bemächtigt hatte. Herras war jedoch weit davon entfernt, etwas von der Herrlichkeit seiner Heimat wahrnehmen zu können. Noch immer hatte er keine Ahnung, welche Pläne Kalerid mit ihm hatte. Warum machten sich die Sellag eine solche Mühe mit seinem Tod? Alles, was er sich an diesem sonnigen Tag wünschte, war ein Ende des entsetzlichen Wartens und eine schnelle Hinrichtung.
Kalerid hingegen war frohen Mutes. Er war noch immer zufrieden mit sich und der Welt. Er hatte sein ganzes Leben in dunklen Höhlen und auf öden Gebirgspässen verbracht. Wiesen und Bäume kannte er nur von den Hochweiden, auf denen die Sellag ihr Vieh hielten, doch das war nichts im Vergleich mit dieser prächtigen Vielfalt der Natur. So etwas kannte er nur aus den alten Erzählungen seines Volkes