»Es lässt sich nicht abwenden«, versuchte Kurena es nochmals unbeirrt. »Die Zeichen sind eindeutig. Es wird nicht mehr lange dauern.«
Hondor brachte sie mit einer unwirschen Handbewegung zum Schweigen. »Hör auf mit deiner Schwarzmalerei, Alte. Seit Jahren prophezeist du den Untergang«, brummte er, während Herras seine Karten offen legte. Hondor verzog das Gesicht. »Mein einziger Untergang ist dieses Spiel.«, seufzte er.
»Das Nächste wird besser für Euch laufen.« Herras lachte, und begann die Karten zu mischen.
Auch Kurena seufzte. Sie war kein anderes Verhalten von ihrem König gewohnt. Dabei belog sie ihn nicht einmal. Die Zeichen waren unverkennbar, nur der Zeitpunkt ließ sich nicht genau deuten. Doch er rückte näher, das wusste die Seherin, wenn sie den Anhänger, den sie um ihren Hals trug, berührte. Hondors Mutter wäre niemals so kurzsichtig gewesen, doch sie war tot und Hondor in Kurenas Augen als König zu unbekümmert. Leider schien sie die Einzige zu sein, der das auffiel, denn das Volk liebte seinen König. Sie würden schon sehen, was sie davon hatten.
Nach weiteren drei verlorenen Spielen entschied Hondor, zu Bett zu gehen. Herras löschte die Fackeln und Kurena raffte ihre Sachen zusammen. Dann verließen sie den dunklen Thronsaal und zogen sich zurück.
Hondor I
Die laue Herbstnacht neigte sich bereits dem Morgen entgegen, als König Hondor aus dem Schlaf erwachte. Kampfgeschrei und das Klirren von Schwertern drangen von der Stadt unterhalb des Schlosses zu seinen Gemächern herauf und bahnten sich mit dem kühlen Nachtwind ihren Weg durch die offenen Fenster in das Bewusstsein des Königs.
Der ungewöhnliche Lärm in dem sonst so friedlichen Alland Pera verursachte im verschlafenen Geist Hondors zuerst Verwirrtheit, bevor ihn die Erkenntnis mit ihrer ganzen, erbarmungslosen Härte traf und ihm schlagartig klar wurde, dass in seiner Hauptstadt etwas vor sich ging. In Alland Pera hatte es seit vielen Jahrhunderten keine Geräusche gegeben, die an Krieg und Tod erinnern ließen und so erschienen sie nun umso erschreckender.
Herras, Hauptmann der königlichen Wachen und des Königs bester Freund, seit dem sie sich vor achtzehn Sommern zum ersten Mal in den Stallungen des Schlosses begegnet waren, stürmte, ganz gegen das höfische Verhalten, ohne anzuklopfen in die Gemächer seines Herrn.
Hondor jedoch hatte ihn bereits mit Ungeduld erwartet. Obwohl erst kurze Zeit vergangen war, seitdem sein Schlaf unsanft unterbrochen worden war, hatte der König bereits seine Kleidung übergestreift. Herras brachte ihm nun sein Schwert.
»Warum kommt Ihr erst jetzt? Was geht dort draußen vor?«, fragte der König erzürnt, bevor Herras Gelegenheit hatte, ihm Bericht zu erstatten.
Sein Hauptmann keuchte. Schweiß stand ihm auf der Stirn und verklebte sein blondes Haar. Der König sah höchste Besorgnis in den blaugrauen Augen glitzern, als er seinem Getreuen den Gürtel mit dem Schwert abnahm. Herras half ihm dabei, den schweren Lederriemen umzulegen. Seit Generationen wurde das Herrschaftsschwert von Allendas von König zu König weitervererbt, doch schon seit Ewigkeiten war es nicht mehr zum Kämpfen benutzt worden.
»Ich konnte nicht früher zu Euch kommen, Majestät«, entschuldigte Herras sich, noch immer schwer atmend. »Sie sind über uns hergefallen. Hunderte sind es, wenn nicht gar tausende. Es ging alles zu schnell. Plötzlich waren sie überall. Die Stadtwachen und alle fähigen Männer befinden sich im Kampf, aber es werden stetig mehr Eindringlinge und sie sind gekonnte Kämpfer. Unsere Turmspäher melden, dass sie das ganze Land überfallen haben. Soweit man sehen kann, brennen die Dörfer.« Herras konnte nur stockend berichten. Noch immer fehlte ihm der Atem. Es war nicht einfach gewesen, zu den Gemächern des Königs durchzudringen. Die Fremdlinge hatten bereits einen großen Teil des Schlosses in ihrer Hand.
»Wer sind sie?«, fragte der König. Durch die schmalen Fenster seiner Räumlichkeiten konnte er hinunter auf die Dächer der Stadt blicken. Für gewöhnlich genoss er den Ausblick, den er von dort über seine Hauptstadt hatte, doch an diesem frühen Morgen erfüllte ihn das, was sich seinem Blick darbot, mit Entsetzen. Einige der Häuser brannten lichterloh und im rötlichen Schein der Flammen konnte er unzählige Gestalten umherirren sehen. Die Schreie seines Volkes drangen bis hinauf in die hohen Räume des Königs.
Herras schüttelte verzweifelt den Kopf. »Ich weiß es nicht, Majestät. Solche Wesen habe ich noch nie in meinem Leben gesehen. Sie sind von kleiner Gestalt, mit grauer, horniger Haut und hässlichen Fratzen. Manchmal laufen sie nur auf zwei Beinen, manchmal bewegen sie sich auch auf allen Vieren fort. Obwohl sie einem erwachsenen Mann in aufgerichteter Haltung nur bis zur Schulter reichen, sind sie trotzdem schnell und stark. Sie treten in Gruppen auf und überfallen einen, bevor man sich ihrer Gegenwart überhaupt bewusst werden kann.«
Der König seufzte. Zum ersten Mal, seitdem Hondor den Thron bestiegen hatte, konnte Herras tiefe Sorgenfalten in dem sonst ebenen Gesicht seines jungen Königs und Freundes sehen.
»Lasst uns gehen!« Ohne weitere Umschweife machte sich Hondor daran, den Raum zu verlassen. Er war entschlossen, zu kämpfen, für sein Land und für sein Volk.
Hondor war ein gerechter und kluger König, aber er war kein kampferprobter Anführer und kein Kriegsherr. Er hatte den Thron vor beinahe sechs Jahren von seinem Vater geerbt, so wie dieser ihn davor nach dem Tod seines Vaters bestiegen hatte. Es war lange her, dass die letzte Schlacht in Allendas geschlagen worden war - weit über neun Jahrhunderte. Damals hatte Helaras, der Urvater von Hondors Geschlecht, das Land für sich erobert und die dort lebenden Menschen von der Versklavung ihrer Peiniger befreit.
Seitdem war sehr viel Zeit vergangen und die Erinnerungen an die Vergangenheit fast erloschen. Die Menschen in Allendas hatten sich zu einem friedlichen Volk entwickelt. Sie bestellten ihre Felder und ernteten ihre Früchte. Sie waren zufrieden mit dem, was sie hatten. Darüber vergaßen sie beinahe, dass sie nicht allein auf der Welt waren. Sie erfreuten sich gerne an den grünen Wiesen und herrlichen Wäldern ihres Landes und hätte man einen Allendasser gefragt, warum es ihn nie in die Ferne zog, so hätte der wohl geantwortet, dass er es als sinnlos erachtete, denn für die Allendasser gab es ohnehin kein schöneres Land als das eigene. 1)
Herras nahm all seinen verbliebenen Mut zusammen und folgte seinem Herrn, als dieser entschlossen die schweren Türen seines Gemachs aufstieß und den Gang betrat. Für den Hauptmann der königlichen Wachen gab es in einem derartig friedlichen Land nicht viel zu tun, was mit Kampf und Gewalt zu tun hatte. Seine Männer mussten sich um Nachbarschaftsstreitigkeiten und Taschendiebe kümmern, doch noch nie hatten sie einem Gegner im Krieg gegenübergestanden. Herras fehlte es nicht an Entschlossenheit und Tatendrang, doch, ebenso wie seinem König, an Erfahrung.
Herras’ Mund war ausgetrocknet und seine Muskeln angespannt, als er Hondor dicht auf den Fersen blieb. Er war bereits dort draußen gewesen und wusste, wie es um Alland Pera und seine Bevölkerung stand. Viele waren bereits getötet oder überwältigt worden, bevor er die Gemächer des Königs erreicht hatte. Herras zweifelte daran, dass es außerhalb des Schlosses noch eine lebende, freie Seele gab. Aber es war bereits zu spät, den König aufzuhalten und Herras beeilte sich, ihm zu folgen. Es stand ihm nicht zu, die Entscheidung des Königs anzuzweifeln, aber er würde ihm zumindest folgen und sei es in den sicheren Tod. Herras’ Familie stand seit langen Zeiten in den Diensten des Königsgeschlechts. Sie hatten ihm Treue geschworen und er würde seinen Schwur halten, komme was wolle.
Der König und sein Hauptmann kamen nicht weit. Noch bevor sie die erste Stufe der breiten Treppe erreicht hatten, die den Südtrakt des Schlosses, in dem sich die Gemächer des Königs befanden, mit dem Hauptteil verband, bekam der König zum ersten Mal seine Feinde zu Gesicht.
Sie hatten bereits das Schloss und die Stadt besetzt und sie waren wahrhaftig zufrieden mit sich. Ihr Anführer hatte sich des Thrones bemächtigt und sie waren diejenigen, die dazu auserkoren waren, den König zu holen. Sie sollten ihn lebendig gefangen nehmen und obwohl diese Anordnung den Instinkten ihrer Rasse widersprach, zeigte sich doch ein begeistertes Grinsen in ihren hässlichen Fratzen. Ihre Zähne stachen dunkel hervor