Mit einem leisen Stöhnen ließ er sich wieder zurücksinken. Vor seinen Augen tauchten die letzten Erinnerungen an den Albtraum auf, der ihn gequält hatte, bevor sein Schlaf unterbrochen worden war. Er hatte von Allendas und dem Schicksal des Landes geträumt. Herras schüttelte den Kopf, um die hässlichen Bilder abzustreifen und blickte hinüber zum Eingang des Turmes, durch den silbernes Mondlicht hereinfiel und den Innenraum matt erhellte. Dort saß Merit und musterte ihn verwundert.
»Alles in Ordnung?«, fragte der Waldmensch.
Herras Atem beruhigte sich langsam wieder. »Alles bestens!«, erwiderte er und lächelte, zumindest bemühte er sich. »Nur ein Albtraum.«
Merit nickte verstehend und schaute wieder nach draußen. Seine Aufmerksamkeit schien etwas anderem zu gelten. »Olog ist da«, sagte er, während er mit seinen Augen die Dunkelheit durchstreifte.
»Und er scheint näher zu sein, als jemals zuvor«, erklang plötzlich die Stimme von Maleris hinter Herras. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass auch sie erwacht war. In ihren großen, mandelförmigen Augen glitzerte das silberne Licht des Mondes. »Noch nie waren seine Rufe so laut.«
»Trotzdem kann ich ihn nicht sehen.« In Merits Stimme war Niedergeschlagenheit zu hören. »Ich wünschte, ich könnte ihn nur einmal in meinem Leben erblicken.«
Herras und Maleris krochen unter ihren Decken hervor und gesellten sich zu ihm. Schweigend durchforsteten ihre Augen die Nacht, doch Olog war nirgendwo zu sehen.
Herras fröstelte, als er die Ruinen um sich herum betrachtete. Im Schein des Mondes hatten sie etwas Unheimliches und Unwirkliches an sich, boten ein Zusammenspiel von Licht und Schatten, das unzähligen Gefahren Unterschlupf bieten konnte. Als Herras nach Norden schaute, verlor sich sein Blick in der undurchdringlichen Schwärze des Tannenwaldes, der dort an die verfallenen Mauern angrenzte. Plötzlich hatte er das Gefühl, dass sich das Böse, von dem er den Eindruck hatte, dass es seit Anbruch der Nacht über der Ruine lag, von dort herankroch.
»Warum ist euer Stamm nie über diesen Ort hinaus und weiter nach Norden gezogen?«, fragte Herras plötzlich unverwandt und durchbrach damit das Schweigen zwischen den drei Weggefährten. Die Frage brannte bereits seit einiger Zeit auf seiner Seele.
»Weil dort der Togos, der schwarze Wald, liegt«, entgegnete Merit und als er Herras in die Augen sah, meinte der Mensch darin einen merkwürdigen Ausdruck zu erkennen, mit dem er nichts anfangen konnte. »Keiner der südlichen Stämme ist jemals weiter nach Norden gezogen, als bis zu diesem Punkt und keiner der nördlichen Stämme ist weiter nach Süden gekommen, als bis zum gegenüberliegenden Rand dieses Tannenwaldes«, erklärte der Waldmensch weiter. »Nur wenige Wanderer nehmen den Weg auf sich, den Wald zu umgehen, und hin und wieder einige Jäger.« fügte Maleris hinzu. »Hinein hat sich nur sehr selten jemand gewagt.«
Herras konnte seinen Blick nicht von der tiefen Schwärze abwenden. Der Tannenwald, Togos, wie ihn Merit nannte, schien nun einen völlig anderen Charakter zu haben. Das Böse wurde stetig greifbarer. Herras schluckte trocken.
»Warum wagt sich niemand in diesen Teil des Waldes?«, fragte er vorsichtig weiter und war sich nicht sicher, ob er die Antwort überhaupt hören wollte.
»Weil es der schwarze Wald ist«, entgegnete Merit wie selbstverständlich, doch Herras’ verständnisloser Blick verriet ihm, dass ihm dies nicht genügte. »Er erscheint nicht nur schwarz, auch seine Seele ist es«, fügte er daher hinzu. »Der Wald mag keine Fremden und keine Eindringlinge auf seinem Boden.«
Erneut schallte Ologs Ruf durch die Nacht.
»Und wir werden ihn durchqueren?« Herras verzog das Gesicht. Ihm war es alles andere als wohl bei dem Gedanken. Es erschien ihm, als wollte der Wald ihn schon jetzt davor warnen, auch nur einen Schritt in ihn hinein zu setzen.
»Wir haben keine andere Wahl. Merits Tonfall verriet, dass auch er nicht glücklich darüber war, aber er schien es nicht so schwer zu nehmen, wie Herras. »Den Wald zu umgehen, würde uns einige Tage kosten, denn er reicht fast bis zur östlichen Grenze unseres Landes.«
»Aber so schlimm wird es schon nicht werden.« Maleris hatte Herras’ Unmut bemerkt. »Es sind nur Märchen, die über den Togos erzählt wurden. Man sagt, die Tiere, die darin leben, hätten einen bösen Charakter und es würden magische Wesen in ihm hausen, Hexen und Zauberer. Aber wenn du mich fragst, ist das alles Unfug.« Ihre Worte sollten Herras aufmuntern, sie erzielten allerdings mit unglücklicher Sicherheit genau den gegenteiligen Effekt.
»Wir müssen versuchen, die Richtung zu halten und uns nicht zu verirren. Das ist die einzige Gefahr die ...« Merit beendete seinen Satz nicht. Sein Kopf fuhr herum und er blickte angestrengt hinaus in die Ruine.
»Was ist?«, fragte Herras beunruhigt.
Auch Maleris reckte nun den Kopf.
Merit antwortete nicht sofort. Angespannt starrte er auf einen Punkt, der einige Barret entfernt war.
»Mir war, als hätte ich ein Geräusch gehört… von dort«, sagte der Lemberuske schließlich, als sich seine Anspannung ein wenig gelöst hatte und deutete in Richtung der niedrigen Ruine, die einst die äußere Mauer der Burg gebildet haben musste.
»Es wird wohl ein Tier gewesen sein«, vermutete Maleris.
Merit nickte zustimmend. Schweigen legte sich über die Gruppe und sie hingen ihren Gedanken nach, überlegten, was sie im Togos wohl erwarten mochte.
Wenige Kils später kam Unruhe in die nächtliche Stille der Burgruine. Zuerst durchriss ein erneuter, markdurchdringender Schrei Ologs das unheilvolle Schweigen der Nacht. Der Schrei war um ein Vielfaches lauter, als all die Male zuvor und Merit war mit einem Satz auf den Beinen. Dann stürmte eine graue Gestalt durch die wenigen Bäume, die auf der Lichtung innerhalb der Ruine wuchsen. Bevor Merit erkennen konnte, um wen oder was es sich handelte, sah er auch schon die Verfolger. Der massige Körper zeichnete sich deutlich gegen das Mondlicht. Die Kreatur besaß den Körperbau eines Wolfes, aber seine Größe war die eines ausgewachsenen Bären. Solch eine Kreatur hatte Merit in seinem Leben noch nicht gesehen.
Das Untier verfolgte sein Opfer mit großen Sprüngen und es dauerte nicht lange, da hatte sie es eingeholt und sich darauf gestürzt. Zwei weitere folgten ihm.
Ohne lange zu überlegen, legte Merit seine Armbrust an und sein Pfeil traf das Ungeheuer zwischen die Schulterblätter. Der Aufschlag ließ das Untier für einen Moment innehalten, schien es aber kaum zu beeinträchtigen. Erst, als wenige Augenblicke später ein zweiter Pfeil den Schädel des Ungeheuers durchbohrte, jaulte es ein letztes Mal auf, brach zusammen und begrub sein Opfer unter sich.
Alles ging so schnell, dass Maleris und Herras dem Geschehen kaum folgen konnten. Die anderen Kreaturen hielten in ihrem Lauf inne und erspähten die Menschen. Nun hatten sie ihr neues Ziel gefunden. Zähnefletschend wandten sie sich auf der Stelle um und stürmten auf die Menschen zu. Die erste Bestie brauchte nur wenige Sätze, bis sie Herras erreicht hatte. Der Mensch kam gerade noch dazu, sein Kurzschwert, das er in den Händen hielt, fester zu umklammern, doch er konnte die Starre, die ihn vor Angst überkommen hatte, nicht überwinden. Wie in Trance spürte er, wie ihn die riesigen, mit langen Krallen besetzten Tatzen an der Brust trafen und er rücklings auf den Waldboden prallte. Die Pranken zerfetzten seine Kleidung und rissen tiefe Wunden in seine Haut. Ziellos stach Herras mit seinem Schwert auf das Untier ein, doch es ließ nicht von ihm ab. Verzweifelt versuchte er, die Kehle der Bestie zu treffen; es gelang ihm nicht. Das Untier entblößte seine langen Reißzähne und Herras begann, mit seinem Leben abzuschließen. Obwohl alles nur wenige Augenblicke dauerte, schien sich die Zeit in die Unendlichkeit zu dehnen.
Merit blieb keine Zeit, den Schrecken, der seine Glieder durchfuhr, bewusst wahrzunehmen. Als Herras von dem Ungeheuer angefallen wurde, holte er einen weiteren Pfeil aus dem Köcher an seinem Gürtel und legte erneut an. Er vergeudete nicht mehr Zeit, als unbedingt nötig, um sein Ziel ins