Herras’ Bemühungen verliefen leidlich. Als Maleris mit einen gefüllten Beutel zurückkehrte und sich mit dem Rücken an die große Eiche lehnte, unter der sie die Nacht verbringen würden, beschmunzelte sie sein Tun gutmütig.
Kurz darauf kehrte auch Merit zurück. Er war erfolgreich gewesen und brachte ihnen einen großen Vogel mit grau-braunem Gefieder. Herras hatte noch nie ein derartiges Tier gesehen.
»Eine Waldwachtel«, erklärte Merit auf seinen fragenden Blick hin. »Sie schmecken wirklich ganz hervorragend.«
Während der Vogel gerupft und ausgenommen unter Maleris’ wachsamen Augen über dem Feuer gebraten wurde, gab Merit Herras einige Unterweisungen im Umgang mit seiner bevorzugten Waffe. Herras’ Fertigkeiten besserten sich unter Merits Aufsicht stetig; seine Hände und Augen wurden ruhiger und bald traf jeder Pfeil mehr oder weniger genau sein Ziel (oder bewegte sich zumindest in dessen Richtung).
Nach dem reichhaltigen Abendmahl legten sich Maleris und Herras auf den belaubten Waldboden nieder und wickelten sich in ihre Decken. Merit hatte freiwillig die erste Wache übernommen. Er würde sich von Herras nach der Hälfte der Nacht ablösen lassen.
Es dauerte nicht lange, da war Herras in einen tiefen Schlaf gesunken.
Mitten in der Nacht riss ihn unvermittelt ein schriller, durchdringender Laut, der nach dem Schrei eines riesigen Raubvogels klang, aus dem Schlaf. Vor Schreck regungslos blieb Herras liegen und lauschte, doch es folgte kein weiteres Geräusch. Dann herrschte wieder Totenstille.
Maleris schien von dem Geräusch nicht geweckt worden zu sein, denn sie bewegte sich nur kurz im Schlaf und rührte sich nicht weiter.
Herras’ angstvoller Blick streifte den Merits.
»Nur ein Vogel«, meinte dieser ruhig.
»Das muss aber ein außergewöhnlich großer Vogel gewesen sein.« Herras schob seine Decke beiseite und kroch ein Stück näher an Merit heran.
»Ja, unser Stamm nennt ihn Olog«, erklärte Merit. »Vor fünfzehn Sommern hörten wir ihn zum ersten Mal. Seitdem scheint er uns immer zu begleiten, obwohl ihn noch nie jemand zu Gesicht bekommen hat. Er hat uns noch nie etwas zuleide getan. Mein Volk glaubt, die Götter haben ihn geschickt, um uns zu beschützen.« Er machte eine kurze Pause. »Ich denke, er fühlt sich einfach nur wohl bei uns. Er scheint allein zu sein und manchmal hört sich sein Schrei einsam und traurig an.«
Ologs Schrei erfüllte in dieser Nacht noch mehrmals den Wald, aber Herras fürchtete sich nun nicht mehr, denn Merit schien Vertrauen zu dem dunklen Schatten zu haben, der einmal im Schein des fahlen Mondlichts über sie hinweg flog. Doch so sehr er auch in die Dunkelheit hinausspähte, er konnte Olog nicht entdecken.
Die Sellag, die ein Stück entfernt unter einer dornigen Hecke lagen und Marek verfluchten, da er noch immer nicht bereit war, ihnen die Erlaubnis zum Angriff zu geben, vernahmen ebenfalls Ologs Schreie. Sie rückten ein wenig näher in der Dunkelheit und der Kälte der Nacht zusammen, denn die fremdartigen Laute hatten etwas Furcht erregendes und Gewaltiges an sich, etwas, das sie noch nie in ihrem Leben vernommen hatten.
Hondor V
Im Landstrich Elland, zu Füßen des Paratul, lag eine kleine, aber nicht unbedeutende Stadt namens Zurnam. Neben Alland Pera war Zurnam wohl die wichtigste Stadt in ganz Allendas.
Vor dem Angriff der Sellag war Zurnam ein Ort, in dem stets lebhaftes Treiben geherrscht hatte, denn Zurnam bildete das Zentrum des Handels zwischen dem stärker besiedelten Süden von Allendas, in dem die Bevölkerung den Anbau von Wein, Obst und Getreide bevorzugte und dem spärlicher bewohnten Norden, wo sich die Menschen besonders auf handwerkliche Tätigkeiten verstanden und aus dem dort reichlich vorhandenen Holz allerlei nützliche Dinge fertigen.
So florierte in Zurnam seit jeher der Handel. Der große Marktplatz, auf dem täglich die Geschäfte abgewickelt wurden und die Händler ihre Ware anboten, war stets stark belebt gewesen. Eingemachtes und frisches Obst und Gemüse, Kleider, Vieh, Kunst- und jede Form von Gebrauchsgegenständen, die das Herz begehrte, konnte man dort erstehen. Und obwohl, wie schon oft erwähnt, die Allendasser nicht besonders gern ihr Heim verließen und sich auf Reisen begaben, unternahm doch jede Familie zumindest einmal im Jahr eine Reise ins Landesinnere (denn Zurnam lag ziemlich genau in der Mitte des Landes), um ihren Hausstand wieder mit dem Nötigsten zu versorgen. Zumeist kamen allerdings Händler nach Zurnam, die ihre eigene Ware verkauften und neue Ware einkauften, um sie zu Hause in ihren Dörfern anzubieten.
Die Sonne hatte bereits begonnen, sich Richtung Horizont zu senken und den Himmel in ein kräftiges Rot zu verfärben, als der Trupp auf dem großen Markplatz in Zurnam eintraf. Nichts war von dem einstigen Trubel, der die Stadt seit jeher erfüllt hatte, übrig geblieben. Die Marktstände waren abgebrannt oder eingerissen worden. Die Straßen waren leer. Nur hin und wieder war ein Sellag zu sehen, der sich beim Anblick des Heerführers tief niederbeugte.
Kalerid stieg von seinem Pferd und sogleich stürzte ein verhältnismäßig dürrer Sellag aus einem der anliegenden Häuser (vor dem Angriff war es das Rathaus von Zurnam gewesen) auf ihn zu.
»Heerführer, ich kann es nicht glauben, dass Ihr uns hier, in dieser Euch unwürdigen Stadt beehrt«, schwatzte der Sellag mit einer, sogar für den Heerführer beinahe widerwärtigen Schleimigkeit, während er sich mehrmals tief verbeugte.
»Ich kann es auch kaum glauben, aber die Umstände verlangen es nun mal«, erwiderte Kalerid in überheblichem Tonfall. »Wer bist du?«
Der Sellag verbeugte sich erneut, so tief, dass seine lange Nase fast den Boden berührte. »Mein Name lautet Perlug. Ich bin der Statthalter dieses erbärmlichen Ortes. Eure Anwesenheit ehrt mich zutiefst, Heerführer.«
»Ich denke, es reicht jetzt.« Kalerid machte eine abwinkende Handbewegung.
»Ja, Heerführer, natürlich Majestät«, winselte der Statthalter weiter und verbeugte sich nochmals tief. Er schien nicht besonders viel Erfahrung im Umgang mit der Obrigkeit zu haben und Kalerid nervte sein übertriebenes Gehabe. Mit eine kurzen Handbewegung schlug er Perlug gegen den Schädel.
»Genug jetzt«, fauchte der Heerführer und Perlug hielt entsetzt in seinem Gehabe inne. »Habt ihr Gefangene hier?«
»Ja, Heerführer, sie werden sicher verwahrt.«
»Gut, dann lass’ sie hierher bringen«, ordnete Kalerid an, während er sich umblickte.
Perlug winkte einem der umstehenden Sellag zu und dieser eilte davon, um den Befehl des Heerführers auszuführen.
»Ist die Frage erlaubt, wozu ihr die Menschen benötigt?«, fragte der Statthalter vorsichtig.
»Das werde ich dir später erklären.« Kalerid deutete seinen Wachen an, die Gefangenen von den Wagen zu holen. »Vorerst benötige ich noch einige deiner Wachen und ich verlange, dass du mir eine geeignete Unterkunft herrichten lässt, bis ich zurückkehre«, fügte er noch hinzu. Perlug verbeugte sich abermals tief. Der Statthalter nickte eifrig, als Kalerid sich umdrehte und ihn stehen ließ.
Mühsam kroch Hondor hinter den anderen aus dem Wagen. Seine Beine waren taub und seine Knochen schmerzten vom langen Ausharren in dem engen Zwinger. Er versuchte gerade, seine gefesselten Arme und Beine zu bewegen, um die Durchblutung wieder in Gang zu bringen, als er Kalerid auf sich zukommen sah.
»Kennst du den Weg zum Paratul, Herras?«, fragte ihn der Heerführer.
»Selbstverständlich.« erwiderte Hondor und deutete nach Westen. Selbst wenn er es nicht gewusst hätte, wäre es nicht sonderlich schwer gewesen, den Hügel zu finden. Der Paratul erhob sich dort über den Dächern der Stadt. Man musste den Markplatz nur über den westlichen Weg verlassen und der Straße folgen, um geradewegs dorthin zu gelangen.
Kalerid folgte seinem Blick und lachte zufrieden. »Wunderbar,