Kalerid unterbrach ihn. »Ohne Rast?! Ihr habt euch doch auf dem Karren lange genug ausgeruht, nichtsnutziges Gesindel.«
»Aber meine Leute brauchen Wasser und etwas zu essen. Wir haben seit Tagen nichts bekommen«, sprach Hondor unbeirrt weiter. Kalerid lachte ihn aus.
»Deine Leute? Haben sie dich zu ihrem Anführer gewählt?« Hondor erwiderte nichts. »Essen gibt es erst, wenn ihr etwas gearbeitet habt. Bis jetzt wart ihr nur eine Last für mich.« Hondor Blick verdunkelte sich und Kalerid genoss es. »Aber ich will nicht so sein.« Kalerid schien sich in der Rolle des Großzügigen zu gefallen. Er wandte sich an seine Wachen und rief ihnen zu: »Bringt Wasser für die Gefangenen!«
Mehrere Eimer wurden herbeigeschleift und das Wasser mit großen Schöpfkellen an die Menschen verteilt, die gierig ihren Durst daran stillten. Mittlerweile waren auch die Gefangenen von Zurnam auf den Marktplatz geführt worden. Sie boten einen ebenso erbärmlichen Anblick wie die Menschen aus Alland Pera. Und auch die sellagische Verstärkung war nun eingetroffen. Perlug hatte eine große Anzahl seiner Krieger zur Verfügung gestellt.
Nachdem die Wassereimer bis auf den letzten Tropfen geleert waren, gab Kalerid den Befehl zum Aufbruch, und die Gefangenen trabten widerwillig los. Zusammengebunden in einer langen Reihe und umringt von Sellag-Wachen, zogen sie dem Paratul entgegen.
Die Nacht war schon über das Land hereingebrochen und am klaren Himmel funkelten die Sterne, gerade so, als wüssten sie nichts von dem, was sich unter ihnen abspielte, da hatten sie endlich den Fuß des Hügels erreicht. Für Fackeln und Arbeitsgeräte hatten die Sellag ausreichend gesorgt. Kalerid hatte bereits in Alland Pera daran gedacht und vorsorgen lassen, obwohl das gar nicht nötig gewesen wäre, denn gerade in Zurnam gab es solche Dinge zur Genüge. Nun ließ der Heerführer die Fackeln rings um den Hügel in die Erde stecken und die Schaufeln an die Gefangenen verteilen. Die Sellag-Wachen befreiten die Menschen voneinander, entfernten ihnen aber nicht die Hand- und Fußfesseln. So blieb den Allendassern genug Bewegungsfreiheit zum Arbeiten, machte eine Flucht aber so gut wie unmöglich. Die Gefangenen mussten gleichmäßig verteilt um den Hügel herum Stellung beziehen. Kalerid hatte beschlossen, den Hügel von allen Seiten zugleich abtragen zu lassen. Schließlich musste es einen Eingang oder etwas Derartiges geben, der zu dem Schatz führte, auch wenn sich beim ersten in Augenschein nehmen nichts entdecken ließ, was darauf hinwies. Auf diese Art würden sie ihn am schnellsten finden können.
»Los, fangt an zu graben!«, rief er den Menschen erbarmungslos zu, die sich bereits jetzt müde und erschöpft auf die Spaten stützten. Doch ihnen blieb keine Wahl. Wer nicht sogleich zumindest den guten Willen zeigte, der Aufforderung des Heerführers nachzukommen, bekam die Fäuste der Sellag zu spüren. So fügten sich die Menschen ergeben ihrem Schicksal und begannen, den ungefähr hundert Barret hohen Hügel abzutragen.
Zu Anfang ging ihnen die Arbeit noch leicht 7) von der Hand. Der Erdboden unter dem weichen Gras war locker und gut auszuheben. Doch bald wurde der Untergrund fester und steiniger. Vor allem die Frauen und Kinder stießen schnell an die Grenzen ihrer Kräfte und als die Mitte der Nacht vorbeigezogen war, fiel es vielen schwer, sich noch auf den Beinen zu halten. Kalerid kannte jedoch kein Erbarmen. Er wies seine Wachen an, die Menschen weiterhin zur Arbeit anzutreiben und diese führten seine Befehle ohne Gnade aus.
Erst, als die ersten Sonnenstrahlen hinter dem Horizont hervor krochen, sah Kalerid ein, dass seine Taktik wenig erfolgversprechend war. Einige Menschen waren ihm bereits aufgrund ihrer Schwäche ausgefallen. Entweder waren sie ohnmächtig geworden oder sie waren so ausgezehrt, dass sie regungslos am Boden lagen und sich auch durch keine Drohung oder Handgreiflichkeit der Wachen zum Weiterarbeiten bewegen ließen. Wenn er diese Arbeitsweise weiterhin fortsetzte, würde er bald keinen einzigen einsatzfähigen Allendasser mehr haben. Schweren Herzens entschloss Kalerid sich daher, die Gefangenen in zwei Gruppen einzuteilen, die sich im Abstand von zwölfmal fünfzig Kils abwechseln konnten. Er befahl seinen Wachen, Zelte aus Zurnam herbeizuschaffen und ein notdürftiges Lager zu errichten, in dem sich die Menschen ausruhen konnten. Dann ließ er die erste Gruppe einteilen und in das Lager führen. Er verfluchte die Schwäche der Menschen. Trotzdem, oder gerade deswegen, ordnete er an, Nahrung in der Gruppe verteilen zu lassen, nicht aus Mitleid, aber im Sinn seiner Pläne.
Ausgelaugt und müde sanken die Menschen innerhalb des Zeltes zu Boden und blieben vorerst regungslos liegen, zu müde, einen klaren Gedanken zu fassen oder sich über die Aussichtslosigkeit ihrer Lage bewusst zu werden.
Es kam genau so, wie Hondor sein Glück eingeschätzt hatte: Er gehörte der ersten Gruppe an, die weiterhin zum Arbeiten getrieben wurde. Er blickte hinüber zu Zorina, die ein Stück entfernt auf dem Boden hockte. Sie war zu erschöpft, sich weiterhin auf den Beinen zu halten, geschweige denn, einen einzigen weiteren Klumpen Erde zu bewegen. Sie kniete zusammengesunken auf dem Boden und scharrte verzweifelt im Dreck. Mehrfach hatten die Wachen versucht, sie zum Arbeiten zu bewegen, aber all das hatte keinen Sinn gehabt. Hondor wusste nicht, ob es Mitleid war oder ob sie einfach eingesehen hatten, dass es keinen Sinn mehr hatte, aber irgendwann hatten sie von ihr abgelassen und ließen sie gewähren. Zu Hondors Linken schuftete Usadim mit verbissenem Gesichtsausdruck. Der kräftige Mann schien noch nicht am Ende seiner Kräfte angekommen zu sein, aber sein Unwille stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben.
Zwanzig Kils vor Mittag traf endlich die von Kalerid ungeduldig erwartete Verstärkung an Gefangenen ein. Er hatte sie aus den umliegenden Dörfern anfordern lassen. Nun gönnte der Heerführer auch dem Rest der ersten Gruppe endlich Ruhe. Todmüde und mit wunden und offenen Gelenken, stützte Hondor Zorina, als sie in eines der Zelte wankten. Usadim folgte ihnen mürrisch und erschöpft.
Gemeinsam ließen sie sich in eine freie Ecke fallen und blieben dort liegen, ohne sich zu rühren oder einen Laut von sich zu geben.
»Wenn das so weitergeht, haben wir uns bald alle zu Tode geschunden«, raunte Zorina irgendwann.
»Wir dürfen nicht aufgeben. Wir müssen versuchen durchzuhalten, bis uns etwas eingefallen ist, wie wir ihnen entkommen können.« Hondor versuchte, seine Begleiter zu beruhigen, aber es klang nicht so entschlossen, wie er es sich gewünscht hatte.
Usadim sagte nichts. Er lehnte mit dem Rücken gegen einen Pfosten und schnarchte bereits vor sich hin. Auch Zorina fielen bald die Augen zu.
Hondor bemühte sich redlich, sich endlich eine genaue Vorstellung darüber zu machen, wie es weitergehen sollte, wie sie dieser misslichen Lage entfliehen konnten, aber sein Körper forderte bald ebenfalls seine Rechte und die harte Arbeit ihren Tribut. Er sank erschöpft in einen traumlosen Schlaf.
Als man sie am Abend wieder zur Arbeit holte, fühlten sich die Vier wieder kräftiger. Sie hatten etwas zu Essen und ausreichend Wasser bekommen. Das Abtragen der Erde fiel ihnen zumindest zu Beginn ihrer Schicht nicht allzu schwer. Doch es hatte nun zu regnen begonnen und dies erschwerte die Arbeit zusätzlich. Das Erdreich war nun schlammig und schwer von Wasser. Es dauerte nicht lange, dann waren die Gefangenen über und über mit Schlamm bedeckt. Die Feuchtigkeit in ihren Kleidern ließ sie zittern. Es war bereits ein beachtliches Stück des Hügels aufgewühlt worden, und Kalerid war geradezu begeistert über die Fortschritte, die seine Arbeiter machten. Schnell verwarf er den Gedanken, nach Zurnam zurückzukehren und verweilte lieber weiterhin in der Nähe des Paratul, um nichts von dem, was dort vor sich ging, zu verpassen.
7) Solche Begriffe sind stets relativ zu sehen!
Herras VI
Herras hatte, wie versprochen, die zweite Hälfte der Nacht Wache gehalten. Trotzdem fühlte er sich frisch und ausgeruht, als sie am Morgen nach einem ausgiebigen Morgenmahl wieder aufbrachen. Merit hatte mit dem Proviant nicht gespart und der Vorrat, den er aus den Rucksäcken zauberte, schien geradezu unerschöpflich zu sein. Zudem erfüllte der Wald Herras geradezu mit Leben.
Sie kamen gut voran. Doch etwa viermal fünfzig Kils nach Mittag veränderte sich das Wetter. Es begann zu regnen. Die Luft kühlte sich merklich ab, sodass sie ihre Mäntel aus den Rucksäcken hervorholten und die Kapuzen tief ins Gesicht zogen.
Trotz