»Hier geht's rein«, zeigte Hagweed unbeeindruckt und stieß eine Tür auf.
Die Herrentoilette, erkannte Heinrich und durchschritt mit Hagweed den gefliesten Vorraum. Freundliches Licht und gedämpfte Musik empfingen sie. Waschbecken, Fliesen und Spiegel waren picobello geputzt. Es roch nach Zitronen und Seife.
»Da wären wir«, sagte Hagweed gut gelaunt. »Geh in eine der Kabinen, schließ die Augen und konzentrier dich.«
»Ich muss aber grad nicht.«
»Sollst du auch gar nicht. Lass da drin bloß die Hosen oben. Ich habe keine Lust verhaftet zu werden, weil ich mit einem Minderjährigen mit heruntergelassenen Hosen in der Winkel-Mall auftauche, okay?« Er schob Heinrich mit sanftem Nachdruck in eine der Kabinen und schloss hinter ihm die Tür.
Verwirrt ließ sich Heinrich auf dem Klodeckel nieder und starrte die Kabinentür an. Wände und Armaturen der gefliesten Kabine waren ebenso sauber wie der Waschraum. Noch nicht einmal versaute Sprüche waren an die Wände geschmiert. Heinrich seufzte. Die Gelegenheit abzuhauen, war erst mal dahin. Dann lächelte er unwillkürlich. Was passierte hier bloß mit ihm? Resignierend schüttelte er den Kopf und schloss die Augen.
Als Hagweed Sekunden später an seine Tür polterte und »Okay, komm raus!« rief, war – nichts passiert. Zumindest nicht auf den ersten Blick. Heinrich öffnete das Kabinentürchen und blickte unvermittelt in Hagweeds grinsendes dunkles Gesicht.
»Willkommen«, sagte er und machte eine einladende Handbewegung, »in der Winkel-Mall.«
13
Heinrich tappte ins Freie und sperrte entgeistert Mund und Augen auf. Verwirrt drehte er sich nach der Toilettentür um – sie war verschwunden. Eine polierte Metall-Fahrstuhltür schloss sich hinter ihm mit einem seufzenden Geräusch. Auch der Waschraum und überhaupt das ganze Lokal waren wie vom Erdboden verschluckt. Stattdessen befand er sich in der Halle einer der größten Shopping-Malls, die er je betreten hatte. Strahlendes Sonnenlicht flutete durch eine gläserne Kuppel herein, die sich viele Meter über ihm wölbte. Große Transparente hingen von der Kuppel herab: ›Willkommen in der Winkel-Mall, Ihrem Shoppingcenter der kurzen Wege‹ stand darauf. Reihen von Ladengeschäften gruppierten sich auf mindestens drei Etagen galerieartig an den Seiten der Kuppel. Mehrere Seitenflügel zweigten von der Hauptachse des Gebäudes nach rechts und links ab. Zahllose Rolltreppen transportierten Scharen von Kunden in die verschiedenen Ebenen des Einkaufszentrums. Teiche mit kleinen Springbrunnen, umstanden von üppigen Zimmerpalmen, zierten die breiten Gänge des Untergeschosses. Bänke luden auf jeder Ebene zum Verweilen ein. Ein Gesumm von unzähligen Stimmen, vermischt mit Kaufhausmusik aus den Eingängen der Geschäfte, lag in der Luft. Auffallend viele Kunden waren in dunkle Umhänge gekleidet und mit spitz aufgerichteten Kopfbedeckungen behütet. Ansonsten sah es aus wie daheim: quengelnde Kinder, genervte Väter, zur Eile mahnende Mütter, Paare beim entspannten Bummeln ...
Heinrich stand vor Staunen noch immer der Mund offen und Hagweed fing an zu lachen, als sein Blick auf ihn fiel. Als Heinrich es bemerkte, klappte er den Mund rasch zu.
»Was dachtest du, wo du Zauberstäbe und Bücher über Zaubertrankbrauerei bekommst? Bei Woolworth in Poppenbüttel?« Hagweed lachte wiehernd und wies mit ausladender Gebärde in die Runde. »Die Winkel-Mall. Alles, was du für den magischen Hausgebrauch benötigst, findest du hier. Und noch etwas mehr. Sehen wir uns ein bisschen um?«
Staunend klebte Heinrich Hagweed an den Fersen, während der den Fremdenführer mimte und Heinrich mit lässigen Gesten den örtlichen Einzelhandel nahebrachte. »Das hier ist ›Star-Back‹, eine unserer größten Bäckereiketten. Machen prima Blaubeermuffins. Dort hinten der Klamottenladen, das ist ›H&M‹: ›Hexen- und Magiermode‹. Da können wir nachher deine Uniformen kaufen. Sind etwas entkrampfter, als die antiquierten Fummel mit Stehkragen von ›C&A‹. Zwischendurch muss ich noch hier drüben zu ›Grünkotz‹, der führenden ortsansässigen Magierbank, und für Professor Schwurbelbart was abholen. Und falls du zwischendurch was zu picken brauchst: Nirgends gibt's bessere Burger, als bei ›McWizards‹, einer unserer angesagtesten Fad-Food-Ketten. Dort vorne bei Olli gibt's 'n ganz gutes Bier. Früher hat Olli hier in der achten oder neunten Generation Zauberstäbe verkauft. Das war, bevor der ›Magier Markt‹ den ganzen Zauberstabmarkt an sich gerissen hat.«
›Bei Olli – Inhaber: Mr. Oleander‹, las Heinrich an der Glastür des bezeichneten Ladens, der gerammelt voll mit erschöpften Einkäufern war, die beim Bier oder Kaffee ein wenig verschnauften.
»Oh, Mann, damals hat auf dem ganzen Gelände hier eine kleine verwinkelte Puffgasse mit etlichen windschiefen und abbruchreifen Buden gestanden«, erinnerte sich Hagweed mit leicht diesigem Blick. »Dann haben Investoren das Ganze aufgekauft, eingeebnet und im Zuge eines Stadtentwicklungsprojektes die Winkel-Mall aufgezogen. Hat viele Leute verärgert, aber so funktioniert halt die Marktwirtschaft. Die Preise für Zauberstäbe sind seitdem um die Hälfte gesunken.«
Sie nahmen die Rolltreppe ins erste Obergeschoss, schlenderten an schier endlosen gläsernen Schaufensterfassaden entlang und inspizierten hier und da die Auslagen und Warensortimente. Heinrich hatte gar nicht genug Augen und Ohren, um all die auf ihn einstürmenden Eindrücke zu verarbeiten. Hagweed erklärte die exotischen Artikel und hatte zu allem, auf das Heinrich zeigte, eine Antwort parat. »Die Früchte da? Das sind Melaten. Eine Kreuzung aus Melonen und Tomaten. Sehr schmackhaft. Die daneben heißen Würgpflaumen. Werden nicht so arg geschätzt, weil sie ziemlich scharf nach Drachenmist riechen. Deshalb werden sie eingepackt verkauft. Als Brechmittel sind sie aber äußerst wirksam.
Der Laden da hinten? Die verkaufen Haustiere für die biologische Rohrpost. Die meisten von denen kennst du: Murmeltiere, Wühlratten, Kaninchen, Hamster und so weiter. Sind für den Posttransport zuständig. In Hochwärts wimmelt es nur so von ihnen. Schüler dürfen auch ein eigenes Posttier haben. Ist aber vielleicht günstiger, wenn du dich in Hochwärts erst mal ein bisschen eingewöhnst, bevor du an so was denkst. Wenn du willst, besorge ich dir eins, wenn du dort bist. Kannst dir ja mal überlegen, was für eins du möchtest.
Der Laden daneben könnte nächstes Jahr interessant für dich werden: Fluggeräte. In erster Linie Tretroller und Kickboards. Auf denen wird fliegen gelernt. Erstklässler dürfen allerdings erst nach bestandener Flugprüfung ein eigenes Fluggerät haben; hast du in deinem Brief sicher gelesen. Und dort drüben bei ›Guten&Berg‹ werden wir nachher deine Schulbücher kaufen.«
Es wurde ein ungemein spannender Nachmittag für Heinrich. Ihm fiel auf, dass er bereits seit einer Weile gar keine Fragen mehr stellte, die die Existenz dieser Welt überhaupt in Zweifel zogen. Hagweed hatte seine Neugierde geweckt und er brannte jetzt förmlich darauf, in den Läden zu stöbern und die Dinge genau in Augenschein zu nehmen. Er fühlte sich wie berauscht, wollte alles wissen, alles berühren, alles erfahren. Ein Traum? Egal. Er wollte es genießen, so lange es dauerte.
Hagweed interpretierte Heinrichs glühendes Gesicht richtig. »Und?«, fragte er lächelnd und schlug den Weg zu H&M ein. »Bereit für ein bisschen Kaufrausch?«
Heinrich strahlte erwartungsvoll.
»Weißt du eigentlich deine Kleidergröße?«
Er schüttelte den Kopf. Ausgerechnet Klamottenkauf! Konnten sie nicht mit den Zauberstäben anfangen?
»Macht nichts. Wir gehen trotzdem rein. Wird dir gefallen. Die Magiermode ist in den letzten Jahren viel zwangloser geworden, weißt du? Nicht mehr diese spitz aufgerichteten Hüte. Heute trägt man den Spitzhut mit Knick. Zylinder sind völlig out.«
Der Modetempel von H&M war so groß, dass er gleich über mehrere Etagen verteilt war. Sie drängten sich durch die Eingangstüren im ersten Obergeschoss. Trockene Konservenluft schlug ihnen entgegen und erinnerte Heinrich, zusammen mit dem Übermaß an Kunstlicht und der seichten Musikberieselung, an die typischen Warenhäuser von zu Hause. Auch das Warenangebot mit Bergen von Klamotten