In Biçons Kopf herrschte Aufruhr, er schnappte krampfhaft nach Luft. Energisch suchte er sich zu beruhigen, um seine Gedanken sortieren zu können.
Da schoss in ihm plötzlich die Erinnerung an ein Zusammentreffen mit Michael Bruhns hoch.
Damals auf dem Bahnhof Lichtenberg in Berlin war es gewesen. In dem Café äußerte Bruhns der sich einen Tag später »Braun« nennen musste ihm gegenüber einen Verdacht. Er gab ihm sogar den Namen dieses Mannes, der dort auf seiner Baustelle für die »Deutsch-Sowjetische« bezahlt wurde.
War es dieser Typ, der ihm jetzt auf dem Monitor entgegen grinste? Hastig blätterte Biçon durch sein Büchlein. Er war sich sicher, dass er damals in der Nacht vor der Fahrt nach Liechtenstein diesen Namen notiert hatte.
Richtig! Da stand er. »Knäbelein«.
Was hatte ihm Bruhns noch erzählt? Er sagte, dass ihm gegenüber der Sicherheitschef der Baustelle den Verdacht äußerte, es habe sich nicht um einen Selbstmord gehandelt!
Biçon hielt inne, trank einen Schluck vom Brandy.
Natürlich! Diesen früheren Sicherheitschef musste er als Ersten finden. Denn nur der würde ihm die erforderliche Aufklärung geben können!
Sofort begann Biçon im Netz zu recherchieren. Er suchte nach einem Namen. Der mit der Erdgastrasse, dem Standort Prokowski und dem damaligen Generallieferanten in Verbindung gebracht werden konnten. Es gab auch einige Treffer. Mehrere kannte er selbst, doch bei keinem klingelte es bei ihm.
War er in eine Sackgasse geraten?
Aufmerksam blätterte er nochmals sein Büchlein durch. Denn plötzlich war er sicher, dass er damals diesen Namen am gleichen Abend notiert hatte! Nach kurzer Suche stieß er drauf. »Justus Faber«. Jetzt hörte er in seinem Inneren auch wieder die Stimme von Bruhns, wie er in dem Café von Justus Faber gesprochen hatte.
Nunmehr richtig in Fahrt gekommen holte sich Biçon noch einen Brandy. Dann ackerte er weiter durch das Netz.
Und tatsächlich. Er fand Faber.
Der schien noch am Leben zu sein. Schließlich präsentierte er seine Firma auf seiner Homepage. Demnach betrieb er seit Jahren in Bernau bei Berlin ein kleines Einmannunternehmen. Für Sicherheitsanlagen und auch einen Schlüsseldienst bot er an.
Biçon atmete auf und lehnte sich im Sessel zurück. Na, wenn das kein Erfolg war! Jetzt gab es einen konkreten Ansatzpunkt und die Jagd konnte beginnen!
Draußen war es inzwischen dunkel geworden und er hoffte, dass Yvonne bald heimkommen würde.
Zufrieden mit den Ergebnissen seiner Bemühungen stellte er sich wieder ans Fenster. Er verschränkte die Arme vor der Brust und starrte hinaus auf die abendliche, lichterfunkelnde Stadt.
Nun gut dachte er. Ich habe endlich eine erste Spur, die mich zu diesem Fettsack führen könnte. Diesen Teil meines Planes werde ich im Detail jedoch allein ausarbeiten und auch ausführen. Yvonne darf davon nichts erfahren! Zumindest nicht, bis ich es hinter mich gebracht habe. Doch der zweite Teil unseres Vorhabens scheint mir noch komplizierter zu werden.
Wie kann ich nur den Kolja Braun finden? Was hilft mir dabei? Und wo steckt der Typ jetzt überhaupt?
Vor seinem Tode hatte Fuhran darüber nichts verlauten lassen. Dessen ungeachtet war zu erwarten, dass Braun abgetaucht war. Wohl gleich, nachdem sein Chef nicht mehr zurückgekommen war.
Über diese Fragen sinnierend massierte sich Biçon mit der Hand seinen verspannten Nacken.
Plötzlich kam ihm ein Gedanke.
Da gab es doch diese Berliner Firma, die den Bodyguard für Fuhran gestellt hatte. Yvonne fand sie im Netz und dabei tauchte doch der Genosse Weiler auf. Quasi wie der Teufel aus der Kiste! Mann! Die drei Altkader in Berlin müssten doch wissen, wohin sich der Bruhns verkrochen hat!
Hier jedoch drängte sich Biçon eine weitere Überlegung auf.
Oder sollten die drei Altgenossen die »Flamme« inzwischen selber an sich gebracht haben? Weil sie es nicht zulassen wollten, dass Bruhns eine so mächtige Waffe allein besaß? Ja! Genau das war es, was er vorrangig abklären musste!
Augenblicklich fühlte sich Biçon ein wenig beruhigt. Denn plötzlich gab es zwei verheißungsvolle Spuren, denen er folgen konnte.
Überlegt und in Ruhe sollte ich es angehen, sagte er sich. Weil jetzt, wo ich schon so weit in meinen Aktivitäten gekommen bin, jede Hektik völlig fehl am Platze wäre.
Gelassen ging er zum Barschrank und goss sich noch einen »Kleinen« ins Glas.
Da kam Yvonne endlich heim.
Ihre Begrüßung fiel flüchtig aus. Doch nach einem raschen, kalten Abendessen saßen sie sich im großen Wohnraum gegenüber.
Yvonne hatte es sich auf der Couch bequem gemacht. Biçon fläzte in einem der tiefen Sessel. Zuvor hatte er einen feinen Roten geöffnet. Er gönnte ihm heute jedoch nicht viel Zeit zum atmen. Bald schenkte er ihn in zwei Gläser.
Sie stießen an und tranken.
Dann erstattete er seiner Lebensgefährtin Bericht. Recht ausführlich listete er dabei auf, was er seit dem Mittag alles unternommen hatte. Wegen einer Spur zu Bruhns und auch zu Faber.
Wobei er seine Worte genau bedachte. Schließlich hatte er sich auch mit der Suche nach dem vermeintlichen Mörder seines Bruders befasst. Auf diesen Teil seiner Recherche ging er jedoch gar nicht ein. Dafür ging er in Bezug auf die Spur die ihn zu Bruhns bringen sollte mehr ins Detail.
Yvonne zeigte sich sehr interessiert. Sie überlegte einen Moment. Dann stimmte sie seinem Vorhaben zu, in Kürze nach Berlin zu fahren.
Ihren Vorschlag ihn mit einer ihrer Maschinen dorthin zu flieg? lehnte Biçon jedoch strikt ab.
»Schade auch, du Egoist!«, maulte Yvonne und zog einen Flunsch. »Wo ich doch so gern in Tempelhof starte und lande. Mann! Mitten in der Stadt liegt der alte Flughafen! Weißt du eigentlich, welchen Kick das einem gibt«
Doch Biçon gab nicht nach, blieb bei seinem Entschluss. »Bitte werde nicht sauer, Schatz! Aber es ist doch viel unauffälliger, wenn ich mit dem Zug fahre.«
Kurz darauf trank Yvonne ihr Glas aus. Sie lächelte und mit der Bemerkung, dass sie gern unter die Dusche gehen würde, verschwand sie in Richtung Badezimmer.
Sie ließ jedoch dort die Tür offen.
So das Biçon über den Flur hinweg das Geräusch des plätschernden Wassers hören konnte.
Einer plötzlichen Eingebung folgend schlich er hinüber ins Badezimmer. Durch die Perlglasscheiben der geräumigen Duschkabine vermochte er Yvonnes Silhouette erkennen.
Rasch warf er seine Kleidung ab und schob die Glastür beiseite.
Er erblickte ihren nackten Leib, der in feinen Dampf gehüllt war. Von den festen Brüsten rann das Wasser hinab zum schmalen Lockenstreifen zwischen ihren Schenkeln. Eine heiße Welle der Erregung schoss in ihm empor.
Ihr erstaunter Blick, weil er nackt vor ihr stand, bohrte sich kurz in die blitzenden Augen ihres Partners. Dann glitt er langsam an dessen Körper hinab, um schließlich zu verharren.
Sie spitzte ihre Lippen und ein feines, sinnliches Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. »Ich sehe! Er will sich ganz doll von mir verabschieden!«, gurrte sie. Dann zog sie ihren Partner mit sanftem Griff unter die Dusche.
Am nächsten Morgen bereitete Biçon in seiner Firma alles für seine mehrtägige Abwesenheit vor.
Tags darauf wollte er, mit nur einer Reisetasche als Gepäck, in einen ICE steigen, der Richtung Osten fuhr.
Sechshundertdreizehn (Berlin im Herbst 2005)
Drei Monaten lang