„Da vorne ist noch ein Etikett mit einem Namen drauf, vielleicht ist es der Besitzer oder der Name des Präparators?“ macht Albert seinen Freund darauf aufmerksam. Jean betrachtet das Etikett genauer und schaut Albert sprachlos an.
Nachdem er seine Sprache wieder gefunden hat, bestätigt er seinem Freund die Annahme. „Du hast recht, der Name auf dem Etikett ist der bedauernswerte Besitzer dieses Exponates. Damit meine ich nicht den, dem das Glas gestohlen wurde, sondern den ursprünglichen Besitzer dieses Kopfes.“ „Wie bitte? Kennst du etwa den armen Mann in dieser trüben Suppe?“ „Das würdest du auch, wenn du nicht immer nur an deine Isabell denken und auch mal in die Zeitung schauen würdest. Das ist der vermisste Politiker Pierre Delac, der wird schon seit einer Woche vermisst.“ Albert ist überrascht. „Bist du dir sicher?“ „Und ob, erstens steht der Name vorne drauf und zweitens sind Bilder von ihm in den Zeitungen gewesen, also hat meine Annahme Hand und Fuß, im Gegensatz zu diesem armen Wicht hier.“ „Dann ist das also doch ein Mord! Dann haben wir einen neuen Fall!“ „Freue dich nicht zu früh, gestern ist Kommissar Planchon mit der Suche nach dem vermissten Politiker beauftragt worden, also wird es sein Fall sein!“
„Oh verdammt, kommt uns der denn ständig in die Quere?“ „Lass ihn doch, wir haben ihn das letzte Mal dumm aussehen lassen, da darf er sich jetzt mit diesem Schädel herumärgern. Wenn er den Fall übernimmt, hast du mehr Zeit, dich um deine Verlobte zu kümmern.“ Was ist denn jetzt mit Jean los? Wieso gibt er so einfach den Fall ab? Albert merkt, dass er sich ein bisschen besser um seinen Freund kümmern muss. Das macht er am besten heute Abend, wenn er ihn mit auf die Geburtstagsfeier zu Ehren des Kronprinzen ins Deutsche Haus schleift, dann vergeht ihm das Trübsal blasen.
„Dann bleibt uns eben nichts anderes übrig, als den anderen Vermisstenfall zu übernehmen. Dieser Graf von Limburg, der mir gestern den Kopf gab, vermisst seinen Kumpel, einen gewissen Fritz. Ich denke, wenn wir den finden, haben wir auch eine Spur zum Mörder von Monsieur Delac.“ „Na schön, wenn du meinst, wie heißt dieser Fritz denn noch?“ „Hm, einfach nur Fritz, mehr wollte mir der Graf nicht verraten.“ „Und du glaubst, dass das für eine Vermisstenanzeige ausreicht? Hat er ihn wenigstens beschrieben?“ Leider muss Albert auch diese Frage mit nein beantworten. „Wie sollen wir denn jemanden finden, von dem wir nicht mehr als den Vornamen wissen, wir würden ihn nicht mal erkennen, wenn er schon bei Doktor Huisman in der Leichenhalle liegt. Vielleicht ist dieser Fritz zu Geld gekommen, und hat dann in den letzten Tagen alles in den Bordellen verjubelt? Vielleicht hat der Graf deswegen seinen Freund nicht mehr zu Gesicht bekommen?“
„Das stimmt, allerdings will ich mich lieber um einen Vermissten kümmern, wie um die vielen kleinen Taschendiebe hier auf der Ausstellung. Bevor wir uns aber auf die Suche nach diesem Fritz machen, sollten wir den Kopf zu Doktor Huisman in die Morgue bringen, er muss schließlich erst bestätigen, dass dies wirklich Pierre Delac ist, zumindest ein Teil von ihm. Solange das nicht bewiesen ist, braucht Planchon auch nichts darüber zu erfahren. Ich befürchte, dass Doktor Huisman die Todesursache wahrscheinlich nicht ermitteln kann, der Kopf wird dafür wohl nicht ausreichen.“
„Ich hoffe, dass der Fund seines Schädels, dieser Partei Pur Parisenne keine Sympathien zukommen lässt. Bisher waren sie nur eine kleine Partei, vollkommen unbedeutend“, erwähnt Jean nebenbei. „Wieso kannst du diesen Delac nicht leiden?“ „Persönlich kannte ich ihn ja nicht, aber diese Pur Parisienne sind sehr radikal. Wer nicht aus Frankreich kommt, ist minderwertig und besonders die aus Paris sind die Krönung der Schöpfung. Wenn es nach ihnen ginge, würden sie auch allen Andersdenkenden und Andersgläubigen den Garaus machen. Die Weltausstellung war ihnen auch ein Dorn im Auge, die haben Angst, dass sich die vielen Fremden mit den Pariser Damen einlassen und somit die Blutlinie verunreinigen. So ein Schwachsinn! Bei dir als deutscher Protestant, würden sie wahrscheinlich die Hunde loslassen und dich zurück über die Grenze jagen. Glücklicherweise kann man ihn jetzt nicht mehr wählen.“ „Na zum Glück, aber da steht doch sicherlich schon eine Nummer zwei in den Startlöchern.“ „Da wirst du recht haben, aber nur nicht den Kopf verlieren, diese Partei ist recht klein, und wenn ich mir Delac anschaue, wird sie jetzt noch kleiner. Vielleicht war es auch ein interner Machtkampf, und ein Parteimitglied hat ihn im wahrsten Sinne des Wortes einen Kopf kürzer gemacht.“
„Darf ich dir meinen guten alten Freund vorstellen? Das ist Pastor Bertrand Duval. Er ist erst gestern hier in Paris angekommen. Bertrand ist ein weiterer Schützling von meinem Geldgeber Monsieur Laffon. Leider treffen wir uns nicht so häufig, da wir immer in unterschiedlichen Kolonien unterwegs sind“, stellt Pastor Koch einen Herrn Anfang der 40er vor. „Es freut mich, Sie kennenzulernen, ich habe noch nicht so viele Freunde von Richard kennengelernt.“ „Oh Mademoiselle, die Freude ist ganz meinerseits. Ich habe gedacht, Monsieur Laffon scherzt, als er mir erzählte, mein Freund Richard hat eine Herzensdame gefunden. Aber wenn ich Sie mir so ansehe kann ich es verstehen, dass sein Herz erweicht wurde. Da hat er doch noch ein bisschen Platz in seinem Herzen gehabt, ich dachte es wäre schon von seinen Zöglingen in den Kolonien ausgefüllt.“ „Jetzt tue nicht so, du hattest doch auch eine liebe Frau – Gott hab sie selig.“ „Ja meine Charlotte, die Cholera hatte sie mir genommen, das ist eben der Preis, den man zahlt, wenn man in den Kolonien arbeitet.“ „Oh, Sie Armer, mein herzlichstes Beileid“, bekundet Marie. „Das ist schon gut, danke. Es ist mittlerweile schon vier Jahre her, und sie lebt in meinem Herz und meiner Seele weiter.“
„Siehst du Marie, das ist einer der Gründe, wieso ich mich davor gesträubt habe, Gefühle für dich zuzulassen, in den Kolonien ist das Leben für eine Frau zu gefährlich. Ich hasse mich immer noch dafür, dass ich so egoistisch bin und deine Liebe erwidert habe.“ „Aber Richard, so schlimm wird es schon nicht werden, hier in Paris sterben auch Menschen. Versuch doch mal eine Straße zur Hauptverkehrszeit zu überqueren, so ein Bus oder eine Droschke fährt dich schneller über den Haufen als eine Herde Antilopen.“ „Du hast ja Recht, es ist überall gefährlich, aber ich könnte es mir nie verzeihen, wenn dir etwas passiert.“ „Du brauchst keine Angst um mich zu haben, außerdem habe ich dich ausgesucht, du hattest keine Chance, mir zu entkommen“, lacht Marie. „Das stimmt leider, wie hätte ich nein sagen können, bei deiner leckeren Bouillabaisse, oder deinem Coq au vin. Das musst du mal probieren Bertrand, das beste Coq au vin, das ich je gegessen habe.“ „Jetzt wird mir so einiges klar, die gute Marie ist nicht nur in deinem Herzen, sondern auch in deinem Magen. Ich hätte mir auch nichts anderes vorstellen können, dass eine Frau, die meinen Freund hier abbekommt, nicht kochen könnte. Apropos Freund, darf ich euch meinen Freund Manuka vorstellen, er ist aus Neu Guinea aus meiner Mission. Er hat mich durch die schwere Zeit geführt, als meine Frau gestorben war.“ Richard und Marie erblicken einen großen muskulösen dunkelhäutigen Mann mit freiem Oberkörper und Lendenschurz. Als er auf sie zukommt und seine Hand ausstreckt, sieht er im ersten Moment furchteinflößend aus. Aber kaum steht er neben Pastor Bertrand Duval, durchzieht ein breites Grinsen sein Gesicht, und er strahlt eine Sympathie aus, die jede Furcht verfliegen lässt. In einem nahezu perfekten Französisch begrüßt er Marie und Richard.
„Ich bin hocherfreut Sie beide kennenzulernen. Bertrand hat mir schon so viel von Ihnen erzählt. Pastor Koch, es freut mich Sie endlich auch persönlich zu treffen. Natürlich auch ihre liebreizende Frau.“ Überrascht über den dunkelhäutigen Freund von Pastor Duval, grüßt Pastor Koch zurück und bemerkt: „Ich bin erstaunt über Ihre gute französische Aussprache, aber diese bezaubernde Frau ist noch nicht meine Ehefrau.“
Noch nicht! Aber bald werde ich deine Frau sein, du entkommst mir nicht mehr,