Vor unserer ersten Rast durchqueren wir einen alten Bauernhof. Wildes Gebell empfängt uns, streunige Hunde an einem Meter langen Ketten. Wenn man sie anschaut, verkriechen sie sich ängstlich unter ihren Brettern, die sie notdürftig vor der Sonne schütze. Mein Gott, dieser da hat nur ein leeres Ölfass aus Metall, wie heiß muss es darin werden und das jeden Tag und jede Nacht! Auf der rechten Seite liegen große Stapel von Korkrinde bereit zum Abtransport.
Im Schatten einer riesigen Eiche ohne Rinde sammeln wir uns. Die Gruppe hat sich doch ziemlich auseinandergezogen. Ich lasse mich in das spröde Gras nieder und finde ein altes hölzernes Werkzeug zwischen meinen Beinen. Wahrscheinlich aus Eiche hat es unten einen runden Knauf mit einer quer verlaufenden Rille, daraus erwächst ein etwa acht Zentimeter hohes und fast einen Zentimeter dickes umgekehrtes Dreieck. Oben hat es ein Loch, dessen Ränder nach oben von einem Draht oder einer Schnur eingeschliffen sind. Orlando, der einzige Portugiese in unserer Gruppe meint, dass es ein Stampfer für einen Mörser sei. Mittlerweile glaube ich, dass es sich um ein Werkzeug handelt, um die aufgeschnittene Korkrinde loszuklopfen (mit dem Knauf) und dann aufzubrechen, (mit dem Dreieck, was wie eine Klinge hervorsteht). Diese Einschleifungen am kleinen Loch kommen vermutlich von der Schnur, mit der der Bauer das Werkzeug jahrelang am Gürtel getragen hat. Rick meint, dass es ein Geschenk sei. Ich liebe Handwerkzeuge, vor allem traditionelle und nehme es an mich.
Zögernd erhebt sich das noch unsichere Gruppenwesen. Bis auf die Knochen sind wir geprägt vom westlichen Individualismus. Wir sind es gewöhnt, uns als Konkurrenten um Jobs und Häuser, Partner und Redeanteile anzusehen. Jetzt unsere mühsam behauptete Identität in eine Gruppenseele aufgehen zu lassen, zu sehen, dass wir uns ergänzen wie die Sternzeichen im Zodiak, zu einem Konzept des gegenseitigen Respektierens und Helfens zu kommen, dauert.
Bei einer kleinen Kapelle besteigen wir eine Aussichtsplattform. Oben hat der Bruder von Ayda schon den Kaffee bereitgestellt, Friedemann baut ein großes Sonnensegel auf. Wir lassen uns im Schatten nieder und genießen einfach. Unsere Blicke weiten sich, laben sich am fernen Horizont, hinter dem ein Ozean an den Kontinent schlägt. Unter diesem blauen, blauen Himmel liegen die Hügel des Alentejo', jeder in seiner Art und es ist, als träten wir heraus aus der Enge der eigenen Person, um das das große Ganze zu sehen.
Einige helfen mit, das Mittagessen, welches auch Aydas Bruder herangeschafft hat, herauf zu tragen. Wir essen von leichten Tellern aus gepressten Bananenblättern. Ich setze mich zu Rick und seiner Frau und lerne George und Damian kennen. Sie leben auch in dieser Community in Kalifornien. Damian ist verschlossen, anders als George. Nach dem üblichen who are you und from where könnte unser Gespräch losgehen. Wir haben etwas Gemeinsames. Ich spüre, dass dieser Mann nah an seinem Feuer ist. Er beginnt zu erzählen und ich merke, wie ich automatisch nicke und yeah sage, ohne viel von dem zu verstehen, was er redet. Es kommt mir wie Lüge vor.
Zum Nachtisch gibt es Melone. Ich stehe jetzt am anderen Ende der Plattform und rede mit Klaus, während uns der Saft über die Finger rinnt. Sein enges Dress betont seinen durchtrainierten Körper, aber er humpelt. Zunächst ist er verdutzt, dass ich mir seinen Namen gemerkt habe und er meinen nicht kennt. Dann bestätigt sich schnell, was ich in seinem Körper gesehen habe. Sein drahtiger Körper ist übersät mit alten Verletzungen und bis zum Zerreißen angespannt. Klaus ist Polizist aus Berlin und ehemaliger Kick-Boxer. Er verkörpert Recht und Gesetz und Strenge der alten Welt.
Es fällt auf, dass in unserer Gruppe jede Menge „Normalos“ sind, Lehrer, Ärzte, Sozialpädagogen. Wir sind keine Aussteiger. Wir merken nur, dass die alte Welt aus den Fugen geht und wir suchen nach neuen Wegen. Diese Sehnsucht nach nach echten Gefühlen, Gemeinschaft und freier Spiritualität, diese Sehnsucht nach einer neuen Welt ist nicht mehr zu übertönen. Sogar Klaus überlegt mit seiner Frau und seinem kleinen Sohn nach Tamera zu ziehen.
Nun geht es um unsere Wünsche für die Tamera-Zeit. Zwei Wochen sollen nicht einfach wie im Pauschalurlaub verrinnen. Wofür pilgern wir? Es ist eine Zeit des Suchens und Findens, des Wachsens und Reifens und der Heilung. Die Menschen von der Gruppenleitung haben verschiedene Stoffe mitgebracht und Stifte. Es geht darum sich ein Stück herauszuschneiden und sich etwas auf diese Fahne zu schreiben, etwas für das man geht.
Schon stehen die Ersten auf und schneiden bedächtig ihre Stoffe. Bei mir meldet sich die alte Ego-Nummer. Werde ich auch ein Stück bekommen, was wirklich zu mir passt? Was ist, wenn die Farbe, die ich will, nicht mehr da bin? Wann soll ich gehen? Zum Glück nehme ich diesen Brainfuck meistens nicht mehr ernst und stehe auf, als Platz ist und eine Schere frei ist. Ich nehme einfach rot. Rot passt zu mir und meinem Anliegen. Ich wünsche mir nichts Großes. Schon zu oft bin gescheitert, weil ich meine Ziele zu hochgesteckt habe. Ein bisschen mehr Liebe wünsche ich mir, ein bisschen mehr Herzöffnen. Begeistert schreibe ich auf meine Fahne a new open heart. Dann male ich ein Herz darum und Strahlen, die von ihm ausgehen.
Als alle fertig sind, nutzen einige die Gelegenheit, um ihr Anliegen im Kreis vorzustellen. Das kriegt natürlich mehr Kraft, wenn man vor so viele Menschen tritt, ihre Aufmerksamkeit spürt und dann der Welt sagt, was man von ihr will oder ihr geben. Wenn dann die Welt auch noch positiv reagiert in Form von Applaus, ist das schon ein gutes Commitment. Ich prüfe meinen Impuls, in die Mitte zu treten. Er ist gering, also lasse ich es.
Später ist Zeit, einfach Zeit ohne Programm, Zeit für Muße, Zeit für Überraschendes und Belangloses, Zeit für Heilung und Inspiration. Nicht weit entfernt, ist der Gipfel des Grates, auf dem wir lagern. Gipfel ziehen mich an. Als ich nach Santiago de Compostela gepilgert bin, bin ich oft hinter der Gruppe hergetrottet. Aber als wir den O-Cebreiro, dem Pass zur Hochebene zwischen Kastilien und Galizien, erklommen haben, habe ich das Feld von hinten aufgerollt. Jeder Schritt hat mich mit Kraft beflügelt. Die Aussicht und das klare Gebirgswasser, von dem ich getrunken habe, haben ihr Übriges getan. Jetzt lasse ich mich von der Mittagssonne durchglühen und steige auf einem schmalen Pfad bergan. Manchmal drehe ich mich um und betrachte die Gruppe aus wachsenden Entfernungen. Ich mag beides, in der Gruppe sein und meinen eigenen Weg zu gehen. Fast habe ich den Gipfel erreicht, da sehe ich auf ihm ein Liebespaar. Die beiden unterhalten sich innig. Ich will nicht stören und kehre leise um.
Ich bin wieder meinem Platz, neben mir sitzt Nöelle. Soll ich sie ansprechen? Sie guckt so streng und ich habe keine Lust auf Smalltalk. Da entsteht Hektik. Die alte Sigrid, zwei Meter weiter, ist kollabiert. Friedemann und Ayda, beides Krankenpfleger, springen herbei. Friedemann hebt Sigrids Beine hoch, damit ihr Blut zirkuliert. Längst beugt sich Andrew, der australische Arzt, über sie und bringt ihr Herz wieder zum Schlagen. Umschläge mit frischem Wasser bringen sie in unsere Welt zurück. Wie aus einer anderen Welt sagt sie nur, dass sie kurz weg war. Eigentlich ein schöner Tag und Ort, um zu sterben.
Am späten Nachmittag fangen wir an aufzuräumen, bringen das ganze Equipement runter zum Wagen, bauen das Sonnensegel ab und verabschieden uns von diesem Ort. Sigrid und einige Kinder fahren mit zurück. Wir anderen machen uns in der größten Hitze des Tages um siebzehn Uhr, wenn alles aufgeheizt ist und die Sonne immer noch Kraft hat, auf den Rückweg. Wir geben uns gegenseitig Wasser. Ein bisschen können wir den Flüchtlingen nachfühlen, aber wir wissen, wo wir schlafen werden und wir haben unsere Jobs, unsere Häuser in der Heimat.
Wieder gehen wir in unseren Triplets. Liegt es an der Hitze? Renate ist anstrengend. Sie beschwert sich über die Situation in ihrer Heimatstadt. Die politische Lage in Deutschland passt ihr nicht, der Zustand der Welt erfüllt sie mit Sorge. Dass sie von Rick und mir Anerkennung, Zuwendung und Vertrauen jetzt und hier erfahren könnte, interessiert sie nicht. Wie ein Kind bleibt sie vor dem zerbrochenem Spielzeug stehen, unfähig den Verlust oder Schmerz auszutrauern und sich etwa Neuem zuzuwenden.
Dass sie mit ihrer Klage an den bestehenden Verhältnissen auf eine Art Recht hat, macht es so schwer. Das aktuelle neoliberale System, welches sich mit dem Verweis auf Darwins Konzept der genetisch „Fitten“ legitimiert, hat unermessliches