How bad is my english! Beim Mittagessen sitze ich mit Richard und Elvira am Tisch. Normalerweise fremdel ich gerne bei unbekannten Menschen und jede Platzwahl ist eine kleine Überwindung, aber mein neuer Freund Elmar sitzt neben mir. Was soll passieren? Mir gegenüber taucht ein sympathischer Kerl auf, er stellt sich gleich vor: Hi, I'm Rick. – Rick from New York, begrüße ich ihn. Verblufft setzt er sich hin und sagt, dass er zwar jetzt in Kalifornien leben würde, aber aus New York stamme. Angesichts seiner rotblonden Haaren, dem knalligen T-Shirt und dem Hut mit der kurzen Krempe war das keine große Wahrsagekunst.
Von dem folgenden Gespräch verstehe ich nur Bruchstücke. Elmar spricht fließend englisch und überflügelt mein Schulenglisch mit links. Ich kriege mit, dass die Frau an seiner Seite seine Frau ist und Emily heißt, sie haben zwei Kinder, die jetzt bei den Großeltern sind. Mit anderen zusammen haben sie Land nördlich von San Francisco gekauft und dort eine Community gegründet. Sie sind noch in der Anfangszeit, vieles ist noch unklar. Sie träumen davon, das Silicon Valley in ihre Pläne einzubeziehen. Ich spüre Stress, aber die Kartoffeln grounden mich.
In der Mittagspause dümpel ich noch ein bisschen am und im Badesee herum. Dann um drei ist Chor. Nach den Aufwärm- und Stimmbildungsübungen geht es los, ein Lied aus Brasilien, der Canto do tres raças. Tabea singt super, kann uns schwierige Stellen im Lied erklären und motiviert uns mit ihrer Power.
Dieser kraftvolle und traurige Gesang, der das Leiden der drei Rassen – Indios, Schwarze und Weiße – in der Geschichte des Landes zum Ausdruck bringt. Musikalisch ein anspruchsvolles Lied mit unterschiedlichen Verslängen, Melodie- und Tempowechseln, aber auch ein Gelegenheit die portugiesische Sprache etwas näher kennenzulernen. Allerdings hat das brasilianische Portugiesisch deutliche Abweichungen, was mir Anabel bestätigt. Sie hätte einen Tag gebraucht, um die Menschen hier zu verstehen. Wir dürfen im Sitzen singen, doch als wir abschlaffen, meint Tabea auf Englisch, dass sie uns am Stehen machen würde, wenn wir uns nicht konzentrieren.
Gut dass wir schon in der großen und kühlen Aula sind. Um sechzehn Uhr beginnt hier der Vortrag von Benjamin. Die Aula ist ein großer Hallenbau. Sein Fachwerk ist mit Strohballen aufgefüllt und mit Lehm verputzt, eine ideale Kombination für das heiße mediterrane Klima, die sich auch für erdbebengefährdete Gebiete eignet, weil im Katastrophenfall die Strohballen und der Lehm heraus purzeln, während der Ständerbau stehen bleibt.
In der Aula finden die großen Veranstaltungen mit 300 bis 400 Teilnehmern statt. Vorne ist eine geräumige Bühne, hinten ein Bereich, wo sich die Kinder aufhalten und spielen können. Mir fallen die quälenden Gottesdienste aus meiner Kindheit ein. Die Stunde auf der harten Kirchenbank kam mir wie eine Vorbereitung auf die Ewigkeit vor und ich wartete sehnsüchtig auf die Worte Gehet in Frieden. Ich ging gerne, aber Frieden fühlte ich nicht, sondern eher Erlösung dieser menschengemachten Vorhölle entronnen zu sein. Später, als ich alt genug war den Gottesdienst alleine zu besuchen, schwänzte ich gerne dieses demütigende Ritual und ging einfach spazieren. Einmal traf ich Bekannte meiner Eltern. Der Schreck fuhr mir in die Glieder. Nie schlief er, der strafende Gott.
҉
Benjamin spricht frei und es ist schön zu sehen, wie er sich von unserer Gegenwart und seinen Eingebungen inspirieren lässt. Es liegt Hoffnung in seinen Augen und seinen Worten. Zuhause habe ich immer ängstlich die Nachrichten verfolgt. Man spürte, da spitzt sich etwas zu und niemand bot eine glaubwürdige Perspektive an. Dieses Wir schaffen das! ohne eigentlichen Kurswechsel klang in meinen Ohren wie eine Durchhalteparole. Dieser Mann hier steckt mich an mit seinem Optimismus.
Wo ist der eigentliche Unterschied zwischen einem Audi, einem BMW und einem Mercedes oder Coco Chanel und Calvin Klein? Ausdruck eines verzweifelten Individualismus', alles Surrogate, die uns darüber hinwegtrösten, dass wir das Wesentliche nicht haben. Und von diesem Wesentlichen spricht Benjamin, von einer neuen Welt, die am Entstehen ist. Überall auf der Welt haben Menschen aufgehört, darauf zu warten, dass ihnen die Regierungen helfen. Sie haben Gemeinschaften gegründet, sich Ökologie und Permakultur zugewandt und eine natürliche Spiritualität entwickelt. Mittlerweile sind diese Gemeinschaften dabei, sich weltweit zu vernetzen. Es lohnt nicht, die alten Diktatoren und Oligarchen zu bekämpfen, das festigt nur ihre Macht. Wir lassen sie einfach links liegen und bauen unsere eigene Welt, Terra Nova.
Nach dem Abendessen gehe ich noch spazieren. Diese karge Landschaft mit den sanft geschwungenen Hügeln, von den derben Pflanzen abgesehen, wirkt sie wie ausgestorben, wie von einem anderen Planeten. Nur selten hört oder sieht man einen Vogel, die eigenen Schritte knirschen hart im staubigen Schotter. In der ersten Nacht habe ich ein großes Tier nahe dem Zelt gehört. Ein Wildschwein habe ich gedacht und richtig gelegen. Die gibt es also hier. Später sehe ich ihre Spuren und sogar die von einem Otter. Durch die Anlage der Seen sind die Tiere zurückgekehrt. Ihre Fährten führen immer nach Tamera hinein, niemals hinaus.
Wieder klemme ich mir die Bar. Ich will meine Mitte nicht verlieren und brauche Retreat. Etwa sechzig Menschen in meinem Kurs, ungefähr genau so viele in der parallelen Denkschule, dann noch das Jugendcamp und zahlreiche Helfer in Garten und Küche und nicht zuletzt leben 170 Menschen dauerhaft in Tamera. Wir sind ein Dorf.
Das zweite Buch, was mich begleitet, ist von Thomas Schäfer, dem bekannten Familienaufsteller. Für ihn ist so, als würde der westliche Mensch sein Leben als eine Art Kapital sehen, aus dem es möglichst viel herauszuschlagen gilt. Vor diesem Hintergrund würde jede Krankheit, auch der Tod als persönliche Niederlage empfunden. Entwicklungschancen durch Krankheiten und das Sterben blieben ungenutzt. Hier beschreibt Schäfer die verbreitete allein horizontale Ausrichtung vieler Menschen, die ihr Glück im Anhäufen von Sachen suchen.
Dem stellt Schäfer ein Bild entgegen, welches am ganzen Sein und Nicht-Sein orientiert ist. Betrachtet man die Zeit, die vor unserer Geburt vergangen ist und die nach unserem Tod noch vergeht, bescheidet sich das Leben auf einen kurzen geschenkten Ausschnitt. Aus dieser Sicht wird selbst der Unterschied, ob jemand achtzig Jahre oder achtzig Tage lebt, klein. Das Leben erscheint wie ein kurzes Leuchten vor einem großen Dunklen und dieses Leben lädt ein, Erfahrungen zu machen, um die Tiefe der Seele, die Weite des Geistes und die Schönheit des Körpers auszuloten.
Zu glauben, es gibt Heilung, ist Heilung
Eric Neuner
2016-08-02
Dienstag / Thuesday / Terça-Feira
Wir suchen Schatten, Pilger für einen Tag. Schon morgens um neun brennt die Sonne im Übermaß. Die Gruppe hat sich vor der Zelthalle versammelt, um sich bereit zu machen für ihre Pilgerschaft. Wir sind ausgerüstet mit Hüten, Wasserflaschen und Schreibzeug, manche haben noch Sonnenbrillen und Sitzkissen. Nach eine kurzen Morgenrunde trotten wir los. Dieses Mal sind alle dabei, die Gruppenleiter, die Teilnehmer, ihre Angehörigen, alle Kinder, ein paar Betreuer, insgesamt 75 Personen, ein kleiner Stamm. We are nomads.
Es geht darum, hatte Johannes gesagt, als Gruppe zu gehen, die Gruppe zu fühlen. Normalerweise stürmen einige vor, die Langsamen bleiben zurück und die Gruppe verliert ihren Zusammenhang. Also gucken, wo sind die anderen, vielleicht jemanden aufmuntern, he Sigrid, kannst du noch?, vielleicht ein Kind eine Weile tragen, vielleicht getragen werden.
Bevor wir losgegangen sind, haben wir Triplets gebildet, Kleingruppen in der Großgruppe. Ich gehe mit Renate, sie ist etwas älter als ich und Rick, dem New Yorker aus Kalifornien. Er ist deutlich jünger als wir beide. Wir reden über Heilung, obwohl niemand krank ist. Was ist Krankheit? Wie entsteht Krankheit? Was ist Heilung? Was muss, kann, soll man tun, um Heilung zu erfahren? Noch in der Morgenrunde hat Johannes davon gesprochen, dass er einen Alptraum in dieser Nacht hatte. Ein gewalttätiger Mann wäre