So ziemlich zwischen allen Stühlen – Duhm hatte auch mehrere Professurangebote abgelehnt – zog er sich zunächst auf einen einsamen Bauernhof zurück, um seine Studien der Biologie, Kybernetik, Psychoanalyse, Mathematik, Kunst, Geschichte und Theologie voranzutreiben und seine Vision von einer Gemeinschaft zu verdichten.
1978 trafen sich der Physiker und Musiker Charly Ehrenpreis und die Theologie-Studentin Sabine Lichtenfels. Letztere träumte, seit sie ein Teenager war, davon eine Künstlerkolonie, ein Dorf zu gründen. In Süddeutschland begann 1983 ein erstes Gemeinschaftsexperiment mit fünfzig Menschen, die sich verpflichteten für drei Jahre zusammenzubleiben. Die Gruppe forschte in vielen Bereichen: „im Bauen, in der Ernährung, in der Ökonomie, der Kunst, den Entscheidungsstrukturen einer Gemeinschaft, der Heilung, dem Gartenbau, dem Umgang mit Tieren, dem Umgang mit Wasser und dem Umgang mit Fehlern...“1
Bei aller Aufbruchstimmung musste man anerkennen, wie tief „normale“ Eigenschaften wie Eifersucht, Pedanterie, Rechthaberei usw. in den Individuen verwurzelt waren und trotz bester Absichten die Gemeinschaft immer wieder belasteten.
Als nach drei Jahren die Gruppe ein solides Wissen erarbeitet hatte, wie Gemeinschaft, wie Partnerschaft und Liebe zusammengehen konnten, begannen die Anfeindungen und Verleumdungen von außen. Eines Morgens brachte eine Lokalzeitung einen ganzseitigen Artikel über die „Sex-Sekte“, der von über 40 anderen Zeitungen bis nach Berlin kolportiert wurde. Dem Projekt wurde die Gemeinnützigkeit aberkannt, das Finanzamt forderte überzogene Steuerzahlungen, der Bau einer biologischen Pflanzenkläranlage wurde untersagt, Mitglieder erhielten Berufsverbot, selbst die Kinder der Gemeinschaft wurden von Mitschülern drangsaliert.
Die Gruppe hatte, so Duhm, „... die wunden Punkte in unserer Gesellschaft, echte Schmerzstellen, zu heftig berührt.“2 Die Fortsetzung des Projektes war in Deutschland unmöglich, so teilte die Gruppe sich. Ein Teil ging später nach Belzig in die Nähe von Berlin und gründete das Zentrum für experimentelle Gesellschaftsgestaltung (ZEGG). Ein anderer Teil zog sich nach Lanzarote, teilweise auf das Delphin-Forschungsschiff Kairos zurück, um weiter Gemeinschaft zu leben.
Die Suche nach einem geeigneten Projektstandort blieb. Sabine Lichtenfels hatte im Rahmen ihrer Friedensarbeit Wüstencamps in verschiedenen Ländern veranstaltet, eins davon im Alentejo. So kam Portugal in die engere Auswahl, zumal Sabine die Atmosphäre dort besser gefiel als im macho-geprägten Spanien.
1994 besuchte sie eher zufällig den prähistorischen Steinkreis in Evora, einer Stadt im nördlichen Alentejo. Für die medial erfahrene Frau wurde der Steinkreis zu mehr als einem Symbol für eine archaischen matriachalen, gewaltfreien Gesellschaft. In zahlreichen Trancen fand sie eine Vision einer urgeschichtlichen Utopie, ja eines Paradieses, welches in ihrem Buch Traumsteine niedergeschrieben ist. Diese Informationen haben ihre Schritte später beim Aufbau von Tamera entscheidend mitgeprägt.
Nachdem Sabine eine klare Eingebung erhalten hatte, dass die Zeit des Sesshaftwerdens bevorstand, ging alles sehr schnell. Von einem Bekannten erfuhr sie, dass in der Nähe ein 134 Hektar großes Gelände verkauft werden sollte. Allerdings musste der Kauf innerhalb von einer Woche perfekt gemacht werden, weil sonst das Areal an die Bank fallen würde. Als Sabine das Gelände zum ersten Mal besuchte, traf sie auf einen freundlichen Schäfer, der sie gleich zu einer Quelle führte – der heutigen Orakelquelle.
„Boa água“, betonte der Schäfer immer wieder, „gutes Wasser“.
Eine Palme, eine Feige und eine Rose umstanden die Quelle. Kein Zweifel, hier wohnte eine Göttin. Wie sich später herausstellte, liegt Tamera auf einem geomantisch wichtigen Punkt, wo sich Kraftlinien der Erde und Energielinien alter Kulturzentren treffen. Sabine Lichtenfels unterschrieb den Kaufvertrag, ohne über das notwendige Geld zu verfügen. Einen Namen für den Ort hatte sie schon, Tamera, was am Urquell heißt.
We are Stardust
2016-08-01
Montag / Monday / Segunda-Feira
Ein weißes Band sprenkelt den Himmel von Horizont zu Horizont. Als ich nachts einmal aus dem Zelt muss, stolpere ich staunend unter der Milchstraße umher. Immer wieder löst sich einer aus dem Sternenfeld und verglüht zu Staub. Der August hat begonnen, die Perseiden grüßen.
Am nächsten Morgen gehe ich gleich schwimmen. Es ist nachts kalt in den Hügeln des Alentejo', der Badesee dampft im Morgenlicht. Ich habe ihn wieder für mich alleine und drehe eine langsame Runde. Auch das Frühstück auf der großen Terrasse ist reichhaltig, Müsli, verschiedene Sorten Brot, auch glutenfrei, selbstgemachte Aufstriche süß und herb, Melonen und Nektarinen oder Orangen, dazu Kaffee und Getreidekaffee, Kräutertee und heißes Wasser.
Ich schaue ich mir die Menschen um mich herum an. Das alte Spiel beginnt, den finde ich sympathisch, die sexy, die und den mag ich nicht. Unsere Gehirne sind so, dass sie alles und jeden sofort in Schubladen packen, auch wenn man nicht will und weiß, dass oft der erste Eindruck trügt, besteht der graue Klumpen im Schädel auf sein Bild. Dreieinhalb Millarden Jahre Evolution, kommt man nur schwer gegen an.
Um 9 Uhr dreißig beginnt unser Workshop in der Zelthalle. Fünfzig oder sechzig Menschen sitzen im Kreis und warten, was passiert. Oft werden solche Situationen beherrscht von diffusen Gefühlen der Unruhe, Nervosität oder Peinlichkeit wie im Wartezimmer beim Arzt. Hier ist die Stimmung aufgeräumt. Ich sitze neben Anabel, einer hübschen Brasilianerin. Mir gefallen die Sommersprossen auf ihrem Dekolleté.
Etwas Unerwartetes geschieht. Eine der Gruppenleiterinnen steht auf und tritt in die Mitte. Dort kniet sie vor einer Kerze und einer Schale mit Wasser nieder. Frei spricht sie ein Gebet, um diese beiden Elemente zu ehren und ihre Kraft einzuladen. Ich bin angenehm berührt. Oft fühlen wir uns allein und vielleicht sogar verlassen, aber wir sind es nicht. Wir sind umgeben von wundervollen Kräften. Wir können sie ignorieren und ein sachliches und nüchternes Leben führen oder wir lassen uns ein auf diese Kräfte, lassen uns unterstützen, lassen uns führen. Viel zu oft habe ich in meinem Leben auf die Macht des Gebetes verzichtet. Zwanzig Jahre Katholizismus haben gründliche Arbeit geleistet.
Im Anschluss stellen die Gruppenleiter sich gegenseitig vor: Janka und Eida, Johannes und Friedemann. Sie beschreiben ihre Fähigkeiten und Eigenschaften, ihr Alter und ob sie Kinder haben. Sie sprechen respektvoll von einander und das nicht weil sie PR vor der Gruppe machen wollen. In Tamera wirkt ein anderes Menschenbild.
Wie ist das Menschenbild in der sogenannten normalen Welt? Viele Jugendliche reden sich mit eh, du Missgeburt an und grinsen schief dabei. Man geht vom Schlechten aus. Oft herrscht ein doppelseitiges Bild vor. An der Oberfläche steht der Homo faber, der Macher, der souveräne Kunde, der liberale leistungsbereite Mensch, der es – wenn er nur will – vom Tellerwäscher zum Millionär schafft. Doch dahinter wird oft das Gegenteil spürbar. Gefühle der Unzulänglichkeit, der Einsamkeit, der Verletzlichkeit, Gefühle dass etwas fehlt, dass es nicht reicht, zeichnen einen insgesamt zerrissenen Menschen, der angesichts der vielfältigen Bedrohungen von Klimakatastrophe bis Terrorismus keine rechte Perspektive hat, weil er quasi alles allein aus seiner unsicheren Mitte heraus schaffen will oder soll. Wenn man den Menschen aber in seinem Potenzial sieht und seine Eigenschaften vielleicht sogar ein bisschen besser darstellt, als sie momentan entwickelt sind, so beginnt er hinein zu wachsen in seine Größe.
Mit einem Bild von einem Schiff laden uns die Gruppenleiter auf die eigentliche Reise der Gruppe ein. Es geht darum eine fühlende, vertrauende und arbeitende Gruppe zu werden. In der folgenden Vorstellungsrunde steht jeder einmal auf, geht in die Mitte, sagt seinen Namen und nennt drei Begriffe, die er auf die Reise mitnimmt. Dieses in die Mitte gehen ist wichtig, es ist dieses Sich-dem-Universum-zeigen, der Beginn einer jeden Geschichte. Die meisten nennen Begriffe wie joy, love, community, relationship, inspiration. Destruction höre ich einmal zwischendurch. Als die Reihe an mir ist, gehe ich nickend in die Mitte und sage hope, question and fear. Chuck aus Kanada brüllt masculin wilderness in den Raum. Wie das alles zusammen gehen soll?
Anschließend