Schläft ein Lied in allen Dingen,
Die da träumen fort und fort,
Und die Welt hebt an zu singen,
Triffst du nur das Zauberwort.
In seinem Gedicht Wünschelrute beschwört der deutsche Romantiker Joseph von Eichendorff den Schöpfungstraum dieser Welt. Beim Aufwachen wechseln wir dann von dieser geheimnisvollen Welt in die Welt, die wir geschaffen haben. Angesichts dieser Welt der Effizienz und des Bruttosozialproduktes, der Ausbeutung und Zerstörung, der Verachtung und des Zynismus' überfällt mich und viele andere ein Grauen.
Im Frühling 2016 landete ich auf der Homepage von Tamera (www.tamera.org). In wenigen Augenblicken war klar, dass ich im Sommer das Heilungsbiotop im Süden Portugals besuchen würde, ohne dass ich jetzt sagen könnte, was speziell mich angezogen hatte. Etwas in meinem Innern hatte klick gemacht. Zunächst meldete sich mein Familienvater-Gewissen und ich versuchte meine Frau und Tochter zum Mitkommen zu bewegen. Besonders meine damals 11-jährige Tochter stellte sich quer, so dass schnell klar war, dass ich alleine fahren würde. Mein erste größere Reise alleine seit 14 Jahren!
҉
Anmeldung und Flugbuchung waren kein Problem, aber warum gerade Ryanair? Zunächst funktionierte ich weiter und Tamera verschwand hinter Frühstück, Arbeit, Fernsehen, Bett. Dann meldete sich ein mulmiges Gefühl. Worauf hatte ich mich da eingelassen? Sicher, ich war schon im ZEGG gewesen und hatte dort meine Frau kennen gelernt. Vor zwanzig Jahren hatte ich ein paar Monate in der Nähe des Ökodorf-Projektzentrums gelebt und war gescheitert. Gemeinschaft war mehrere Nummern zu groß für mich. Jetzt war die Kleinfamilie zu klein geworden. Dann kamen die großen Ferien und ich war dabei, einen Waschzwang zu entwickeln. Alle Körper-, alle Atemübungen, nichts half. Meine linke Körperhälfte fühlte sich angespannt und taub an, ich schlief sogar schlecht. Durch die freie Zeit besserte sich allmählich mein Zustand, geheilt fühlte ich mich nicht.
Der Abflugtermin näherte sich und eine stille Vorfreude meldete sich. Ich packte meine Tasche mit dem Zelt, dem Schlafsack und der Luftmatratze. Fünfzehn Kilo höchstens, die Bücher mussten ins Handgepäck. An einem Sonntag um sieben fuhr ich los, parkte unseren Kleinwagen am Bahnhof, versteckte den Schlüssel im Auto und schlug die Tür zu. Auf dem Bahnsteig stand ein schwarzes Liebespaar und eine einsame Frau in meinem Alter, in deren Nähe ich mich stellte. Dann saß ich im ICE und reckte vorsichtig meinen Nacken. Es knackte leise. Ein gutes Zeichen. Diese eingefahrene Sichtweise, die Hartnäckigkeit, mein Denken musste die Richtung ändern. Ich hatte mich eingelassen auf etwas hinter dem Horizont.
Im Bahnhof unter dem Flughafen Köln/ Bonn sprach mich eine Frau an, die den Aufgang zu ihrem Terminal suchte. Ich half ihr, so gut ich konnte. Das war es, was mir fehlte, Kontakt. Nicht dieser Jaja-genau-sowieso-Kontakt, sondern ehrlicher Kontakt.
Einchecken war kein Problem, dreizehn Kilo nur und hinter dem Schalter endlich eine Toilette. Dann hatte ich Zeit und ich hatte keine Lust auf diese McDonalds, diese Lavazzas, diese Douglas-Parfümerien. Ich schlendert herum und übte, kein Ziel zu haben. Am schönsten war es draußen in der Kiss-and-Fly-Zone. Leute kamen und gingen, manche glücklich. Ich rief noch meine Frau an und verabschiedete mich ein allerletztes Mal. Ich war glücklich, dass sie mich einfach gehen ließ nach Tamera mit den vielen Frauen. Natürlich hatte sie gemerkt, dass es mir nicht gut ging und dass etwas passieren musste.
Obwohl ich ahnte, was passiert, rief ich noch meine Mutter an. Mein Name, meine Stimme am Telefon war das Signal für sie, los zu reden. Geschichten, die sie schon x-mal erzählt hat, Geschichten von Menschen, die ich gar nicht kenne, ein Schwall von Worten, zu denen ich nur ja oder mhmh sagen kann. Wenn ich sie frage, wie es ihr geht, sagt sie knapp gut! und ich weiß, dass sie lügt. Auf die Frage, wie es mir geht, warte ich schon seit Jahren nicht mehr. Ich lüge auch und sage:
„Mama, mein Flug wird gerade aufgerufen.“
„Ja“, sagt sie und erzählt noch schnell von ihrem ersten Besuch bei ihrer Urenkelin und wie schön alles war. Ich lüge weiter:
„Mama, ich muss jetzt da rein.“
„Ja“, sagte sie und redete weiter. Wahrscheinlich ist es die Einsamkeit und die Verzweiflung, dass, wenn jemand zum Reden da war, doch kein echter Kontakt zustande kommt. So bleibt jedes Gespräch unbefriedigend und ist nur ein weiterer Stein auf der trockenen Straße.
Nicht so kompliziert ist es mit meinem Vater. Seit dem Autounfall vor vielen Jahren wohnt er im Himmel und kommt einfach mit. Er liebt den Süden wie ich und das Meer.
Übergänge
2016-07-31
Sonntag / Sunday / Domingo
Ryanair ist wohl so geizig, dass die Passagiere keine ordentliche Gangway bekommen. Also trotten wir unter einem schlecht gelaunten Himmel über das Rollfeld und klettern die Treppe hoch. Ich habe mir einen Platz am Fenster reserviert, die Welt von oben sehen, das mag ich. Neben mir sitzt ein drei- oder vierjähriges Mädchen, das mag ich auch. Mit Kindern ist es einfacher als mit den Erwachsenen, die gerne ihr Ego pflegen. Neben der Kleinen sitzt ihre Mutter, eine junge hübsche kleine Frau mit rundem Gesicht.
Wir sitzen und warten. Das Mädchen versucht die Icons für den Notfall auf dem Sitz vor ihr zu deuten. Mama erklärt brav. Als sie einmal nicht weiter weiß, mische ich mich behutsam ein und gebe meine Erklärung ab. Eine kleine Irritation bei beiden, aber der Kontakt ist gemacht.
Ich will nicht aufdringlich sein und vergrabe mich erst einmal in Buch 1, John Upledger, Gründer der kranio-sakralen Körpertherapie, Der innere Arzt.
„Habt ihr gestern bei Papa wieder Kino-Abend gemacht?“
„Ja, wir haben … geguckt“, höre ich von nebenan.
Endlich rollt die Maschine los, steht dann noch endlos lange vor der Rollbahn und wartet auf das Startzeichen. Dann will es die alte Boing noch einmal wissen und beginnt zu zittern, der Schub drückt uns in die Sitze und wir erobern die Wolken.
Kling, wir können die Gurte öffnen. Unter mir ist die Tragfläche, schade, aber die anderen Sitze waren schon reserviert. Bald legt das kleine Mädchen ihre Füße auf meine Beine. Das ist der Mutter peinlich. Ich beruhige sie und sage ihr, dass ich auch Kinder habe und seit Mai Großvater bin. Trotzdem gibt Mama ihrem Kind lieber das Tablet und die Kleine wählt ein wirres Spiel aus. Ich kann nicht hingucken und versenke mich tiefer in die Wunder, die John Upledger mit seinen Händen vollbrachte.
Erst über Südfrankreich klart der Himmel auf. Wir fliegen über die Biscaya und im Südwesten tauchen die Pyrenäen auf. Ich lade das Mädchen ein, auch mal aus dem Fenster zu gucken, was sie vorsichtig und sehr kurz annimmt.
„Fliegt die Kleine zum ersten Mal?“, frage ich die junge Mutter.
„Nein“, meint sie, holt ihr Handy raus und zeigt mir Fotos von einer Villa mit eigenem Pool am Meer.
„Gehört meinen Eltern, fahren wir oft hin.“
„Schön“, meine ich, aber möchte ich jetzt mit meinen Eltern, mit meiner Frau, mit meinen Kindern Familienurlaub machen?
Der Pilot geht tiefer und eine amphibische Landschaft