Stadt und Gespenster. Julia Himmel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Julia Himmel
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738032567
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haben können, alles probiert zu haben, wenn Sie nach Spanien gehen“, sagte der Gaullist zum Abschied – als Aufmunterung vermutlich.

      Draußen gingen die Julia und Sebastian eine Weile schweigend durch die hell erleuchtete Einkaufsstraße der Vorstadt, vorbei an erlesenen Auslagen in den Schaufenstern und an Büroangestellten in dunklen Mänteln und Schuhen, die von der Arbeit nachhause kamen, häufig mit einem Baguette unter dem Arm. Die Lichter in den Fenstern funkelten in der hereinbrechenden Nacht.

      „Was meinst du?“, fragte Julia.

      „Unangenehmer Typ“, sagte Sebastian. „Aber im Moment haben wir nichts Besseres. Jetzt machen wir das erst einmal.“

      „Ich habe nicht mal geheult“, sagte Julia, als erwartete sie Applaus.

      Sebastian legte den Arm um sie. „Du bist eben schon hundertmal durch die Hölle gegangen. Jetzt kann dich nichts mehr schrecken.“

      „Warum hast du überhaupt nichts gesagt?“, fragte Julia.

      „Das Thema ist zu komplex für mein Französisch. Mir fallen einfach nicht schnell genug Fragen ein. Ich habe kaum die Hälfte verstanden.“

      Sebastian fehlte die Übung, in seiner Bank arbeiteten so viele Ausländer, dass sie bei der Arbeit meistens Englisch sprachen. Er zog in Scham die Mundwinkel herunter, wie damals Bill Clinton, wenn er Lügen oder vergleichbare Fehler hatte eingestehen müssen. Nur ehrlicher, dachte Julia. Sie streichelte seine Wange. „Ich verstehe schon“, sagte sie leise.

      Er küsste sie. „Aber was ich verstanden habe, ist, dass du toll verhandelt hast. Ich bin stolz auf dich. Gehen wir etwas essen?“

      Julia lachte. „Im spießigen 16. Arrondissement vielleicht? Mit perfekt frisierten, alten Damen und ihren winzigen Hunden?“

      „Warum nicht? Nach diesem Einsatz haben wir uns etwas ganz besonders Feines verdient.“

      „Na los“, sagte Julia.

      Die beiden gingen Hand in Hand zur Metro.

      Keine Arbeit ohne Leiden

      Auf den ersten Blick schien die Bar ausschließlich aus dunklem Holz zu bestehen. Holzböden, Holztische, Holzstühle und eine Holzbar. Dunkel und gemütlich. Der Ort erinnerte Julia an die Kneipen, in denen sie früher in ihrer süddeutschen Studentenstadt nach einem langen Tag in der Bibliothek oder im Labor eingekehrt war. Das Publikum war zwar um Jahre älter, doch Kleidung und Verhalten waren darauf angelegt, das nicht zu erkennen zu geben. Die Stimmung war fröhlich und entspannt. Viele hielten sich an großen belgischen Biergläsern fest, während sie sich mit ihren Freunden und Bekannten unterhielten.

      „Da hinten“, rief Sebastian und zeigte auf einen niedrigen Nierentisch, den der Besitzer der Bar auf dem Flohmarkt gefunden haben musste. Darum herum saßen Thomas und seine Freunde auf Hockern und Stühlen. An einem Ende des Tisches stand ein Sofa, dessen dunkelrote Polsterung seine besten Tage längst gesehen hatte. Es war Freitag und Sebastian hatte ausnahmsweise die Bank so früh verlassen, dass er rechtzeitig mit Julia zu ihrer Verabredung gehen konnte. Er winkte Catherine zu, die sich tief in das verblichene Rot der Sofapolster hatte sinken lassen. Sie erwiderte den Gruß mit einem Lächeln und hob matt die Hand, als wollte sie ausdrücken, dass sie nach einer langen Woche zu ausschweifenderen Bewegungen nicht mehr in der Lage war.

      Die Tischrunde begann das umständliche Begrüßungsritual, ohne das eine französische Gesellschaft ihren gemeinsamen Abend nicht beginnt. Einer nach dem anderen stand auf, um Julia und Sebastian zu begrüßen. Neue Bekanntschaften stellten sich beim Berühren der rechten Wange vor, die Antwort erwarteten sie bei der Berührung der linken Wange. Julia kannte kein unwirksameres Vorstellungszeremoniell. Es kostete sie so viel Konzentration, Unbekannte zu küssen, dass sie sich deren Namen ohnehin nicht würde merken können. Später noch einmal nachzufragen, war unhöflich. Inzwischen hatte sie gelernt, Feste und Abendessen zu überstehen, bei denen sich alle anderen so verhielten, als verbände sie eine tiefe Freundschaft mit Julia, während sie kaum einen Namen kannte. Früher konnte sie sich an fast jedes Detail noch so belangloser Diskussionen erinnern. Heute vergaß sie manchmal Menschen, mit denen sie Mittag gegessen oder einen ganzen Abend verbracht hatte. Ihre Gehirnzellen waren wahrscheinlich degeneriert, in jungen, wilden Jahren im Alkohol ertränkt oder von biologischen Prozessen oder Vokabeln okkupiert. Beim Austausch von Küssen mit einem kleinen, schmächtigen Franzosen warf sie aus dem Augenwinkel einen neidischen Blick auf Sebastian. Der durfte sich wenigstens bei den Männern, die er nicht kannte, auf ein Händeschütteln beschränken.

      Sebastian und Julia setzten sich neben Catherine auf das verlebte Polstersofa und Julia startete einen Versuch, ebenso tief in den Kissen zu versinken wie ihre Freundin. Sebastian wandte sich dem amerikanischen Studienfreund von Thomas‘ kleinem Bruder zu, der neben ihm auf einem Hocker saß, und begann eine Diskussion über den Vergleich belgischer und tschechischer Biere. Wie sich herausstellte, war der Amerikaner ein Künstler, der sich mit Zeichenunterricht über Wasser hielt. Er war seiner Freundin in ihre Heimat nach Prag gefolgt, wo er gleich zweimal seine große Liebe gefunden hatte: In Gestalt der Frau und in Gestalt der lokalen Biere. Er war klein, bärtig und hatte schon einiges Haupthaar lassen müssen, doch was ihm an Statur fehlte, glich er mit Lebendigkeit und Lautstärke aus. Julia überlegte, warum so viele Amerikaner ihre Neigung, andere zu übertönen, auch nach Jahren in Europa nicht ablegten. Vielleicht lag es daran, dass der Druck sich gegen andere durchzusetzen in den USA so enorm hoch war, bei dem unbedingten Glauben an die Fähigkeit des Einzelnen, sein Glück selbst in die Hand zu nehmen.

      Der Amerikaner, der sich als einziger mit jovialem Handschlag anstatt mit Luftküssen vorgestellt hatte, und zwar als Sean, sprach von Bieren wie sonst nur Weinkenner von ihren liebsten Rebsäften. Fehlte nur noch, dass er den Geschmack verschiedener Sorten mit Waldbeeren verglich. Oder musste man Biere mit Brotsorten vergleichen? Julia stellte sich vor, wie Sean mit seinem Bier gurgelte, es von einer Wange in die andere fließen ließ, und nach dem Schlucken behauptete, es habe im Abgang das Aroma eines Weltmeisterbrötchens. Sebastian hingegen schien nichts Ungewöhnliches an Seans Leidenschaft zu finden. Die beiden Männer verglichen mit dem detailverliebten Vokabular von Kunstkennern den süffigen, malzigen Geschmack belgischer Biere, mit ihrer Tendenz ins Süßliche und – tatsächlich – mitunter einer Beimischung von Waldbeerenaroma mit der herben Männlichkeit eines tschechischen oder deutschen Pils, das einfach, ehrlich und klar Gaumen, Gurgel und Geist erfrischte.

      „Ich habe eher den Eindruck, dass nach drei Bieren der Geist nicht mehr ganz klar ist“, raunte Catherine in Julias Ohr. Julia ließ sich das Bier, das sie bestellt hatte, von dem Kellner reichen – belgisch, süffig, malzig – und probierte aus, ob man es ohne Überschütten gewissermaßen im Liegen trinken konnte.

      „Deine Narbe verheilt gut“, sagte Julia zu Thomas, der auf der anderen Seite des Tisches auf einem Hocker saß. Sie lief quer über die Stirn, war jedoch deutlich verblasst verglichen mit dem letzten Mal, als Julia sie gesehen hatte. Zu Sebastians und Julias Hochzeit war Thomas noch mit einem Hut erschienen, um die Gäste nicht zu erschrecken.

      Thomas war klein und gutaussehend mit dunkelbraunen Haaren. Sein breites Gesicht mit dem markanten Kinn strahlte so viel Ruhe aus, seine Scherze waren von solcher Leichtigkeit, dass Julia sich immer entspannt fühlte, wenn sie in seiner Nähe war. Seine hellblauen Augen hatten einen lieben, sanften Blick.

      „Ja, das geht ganz gut voran.“ Thomas lachte leise. „Sogar die Haare sind fast vollständig nachgewachsen.“ Zum Beweis beugte er seinen Kopf nach vorne.

      „Die Narbe geht nämlich da weiter“, Thomas malte einen Halbmond auf seinen Vorderkopf, den er immer noch Julia und Catherine entgegenhielt.

      „Wie ist das denn überhaupt passiert?“, fragte seine Tischnachbarin, eine kleine Blondine, die sich Julia zuvor während des Küssens mit „Juliette“ vorgestellt hatte. Ausnahmsweise konnte sich Julia daran erinnern, wahrscheinlich, weil es sich gewissermaßen um eine Namensschwester in Verkleinerungsform handelte.

      Thomas erzählte die Geschichte von seinem Unfall. Er war mit seinem Mitbewohner Robert auf der Autobahn nach Lyon