Stadt und Gespenster. Julia Himmel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Julia Himmel
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738032567
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ins Institut. Zumindest wird sie der irgendwann einmal eine Stinkbombe in die Parasitenkulturen werfen“, Julia lachte. Sie stimmte zwar nicht immer mit Rachidas leidenschaftlich vertretenen Standpunkten überein, aber noch weniger mochte sie den Dogmatismus von Joyce.

      „Man hat das Gefühl, dass das ganze Labor bald zusammenbricht“, sagte Sandrine. „Anne-Sophie ist schon seit drei Wochen krank.“

      „Ich weiß, woran sie leidet“, sagte Julia, während sie ihr Mikroskop einstellte. „Sie hat sich wochenlang jede zweite Nacht im Institut einschließen lassen, um den großen Durchbruch mit ihrer Versuchsreihe zu erzielen. Als sie nicht mehr weiterkam und Jean-François um Hilfe bat, hielt er es für einen guten Einfall, ihr zu sagen, ihre Idee sei sowieso zu banal für „Nature“. Dabei kennt er sich mit dem Thema überhaupt nicht aus. Zu dem Zeitpunkt war sie schon so mit den Nerven am Ende, dass sie einen ausgewachsenen Zusammenbruch erlitt. Im Labor. Pierre hat irgendwann vor lauter Angst den Notarzt gerufen.“

      „Ich weiß wirklich nicht, wer Jean-François dazu auserkoren hat, Führungsaufgaben zu übernehmen“, Sandrine schüttelte den Kopf.

      Jean-François war ein dem Alltagsleben und allen einfachen menschlichen Bedürfnissen entrückter Wissenschaftler, der nichts so sehr hasste, wie von der Forschung abgehalten zu werden. Organisatorische Angelegenheiten waren ihm ein Graus und die leidenschaftlichen Auseinandersetzungen seiner Mitarbeiterinnen empfand er als Zumutung, doch er fand kein Mittel, dem ein Ende zu bereiten, und so begannen die Störungen seiner persönlichen Forschungsarbeit allmählich zu eskalieren. Ein Laborassistent hatte Eheprobleme und dämmerte die Hälfte des Tages in der Cafeteria vor sich hin. Seine Arbeitskraft fehlte ausgerechnet der ehrgeizigen Anne-Sophie, die nicht nur einen effizienten Laborassistenten, sondern auch dringend einen Mentor gebraucht hätte, der sie zu regelmäßigen Pausen anhielt und ihr half, ihre Arbeit zu strukturieren. Das alles stellte Jean-François vor eine unlösbare Aufgabe.

      Julia lachte. „Letztes Jahr hat er einen Studenten für ein halbes Jahr eingestellt und ihn Anne-Sophies Gruppe zugeordnet. Nur hat er ihr nichts davon gesagt. Einfach vergessen, oder er hat sich nicht getraut, mit ihr zu reden. Eines Tages stand ein netter junger Mann vor ihrem Büro und meinte, er arbeitete für sie. Kannst du dir vorstellen, wie die getobt hat?“

      Mit ihrer blassen, fast transparenten Haut, ihrem zarten Körperbau und ihren rot-blonden Haaren, deren weiche Wellen fast bis zu den Hüften reichten, entsprach Anne-Sophie vollkommen Julias Vorstellung von der kleinen Meerjungfrau. Doch der äußere Kontrast zu Rachida täuschte: Anne-Sophie stand der libanesischen Laborassistentin an Leidenschaft in nichts nach. Jean-François ähnelte sie darin, dass sie nichts so sehr ärgerte, wie wenn man sie bei ihrer Arbeit störte. Doch da endeten die Ähnlichkeiten auch schon. Anne-Sophie hatte keine Sekunde gezögert, Jean-François wegen des Praktikanten zur Rede zu stellen. Die Situation hatte ihn restlos überfordert. Seither beschränkten sich seine Gefühle Anne-Sophie gegenüber nicht mehr allein auf die allgemeine Ablehnung, mit der er den zeitraubenden Bedürfnissen seiner Mitarbeiter begegnete. Er fürchtete sie, die kleine Meerjungfrau.

      „Empfindlich ist er“, stimmte Sandrine zu. „Nach der Weihnachtsfeier hat er sich bei mir über einen Witz beschwert, den Anne-Sophie über ihn gemacht hatte. Ich habe noch nie so etwas Harmloses gehört. Aber der Witz hat tatsächlich das Verhältnis zwischen den beiden restlos zerstört.“

      „Es bleibt weiter spannend“, kommentierte Julia und begann, aufmerksam durch ihr Mikroskop zu blicken.

      ***

      „Los geht es!“, Catherine hielt sich mit den Händen am Türrahmen fest und hatte ihren Kopf durch die Türöffnung geschoben. Sie ließ ihn parallel zum Boden hängen, so dass es aussah, als schwebte ihr ganzer Körper in der Luft. Dabei sah sie Julia mit funkelnden Augen herausfordernd an. „Jetzt ist Mittagszeit. Auch die Parasiten müssen mal Pause machen.“

      „Ich hab das Geld für die nächste Stelle“, strahlte Catherine auf dem Weg zur Kantine.

      „Wie hast du das denn gemacht?“

      „Na, ich habe doch diesen Antrag bei der Schweizer Privatbank gestellt. Letzte Woche habe ich dort einen Vortrag gehalten und jetzt habe ich meinen persönlichen Sponsor. Ein Philanthrop, der die Welt vor Malaria retten will“, Catherine lachte. „Wir waren ganz vornehm essen, am Genfer See.“

      „Mensch, toll! Gratuliere.“

      „Ja, aber jetzt kommt das nächste Problem. Ich habe schon so viele Kurzfristverträge nacheinander gehabt, dass sie mir keinen neuen mehr geben dürfen.“

      „Da muss es doch irgendeine Lösung geben. Wenn du schon dein eigenes Gehalt mitbringst, können die sich doch mal etwas einfallen lassen.“

      „Das sage ich dieser Tante von der Personalabteilung auch immer.“ Catherine senkte den Kopf und sah Julia kokett von unten an. „Natürlich viel bescheidener. Ich sitze jeden Tag bei ihr auf dem Schoß.“

      Sie waren an den Theken in der Kantine angekommen und Catherine sah sich mit gespielter Unsicherheit nach allen Seiten um, bevor sie hauchte: „Madame Rigeur.“ Sie streckte den Rücken, als hätte sie einen Spazierstock verschluckt, und sagte mit spitzer Stimme: „Nein, Madame, da können wir wirklich nichts für Sie tun.“ Julia lachte und schubste Catherine, bevor sich beide an unterschiedlichen Schlangen anstellten. An der Kasse trafen sie sich wieder.

      „Dann müssen sie deinen Vertrag eben entfristen“, sagte Julia mit gesenkter Stimme und zwinkerte Catherine zu, während sie der Kassiererin das Geld reichte. „Das steht sowieso mal an.“

      „Wo denkst du hin“, rief Catherine mit gespieltem Entsetzen. „Es gibt eine Prozedur! Über langfristige Verträge entscheiden wir im Herbst, nach intensiver Sichtung der Dossiers und in Abstimmung mit den Forschungsdirektoren, einzig und allein aufgrund der Leistung.“

      „Mal im Ernst“, sagte Julia, nachdem sie sich an einen abgelegenen Zweiertisch gesetzt hatten. „Das war sowieso ein Ding der Unmöglichkeit, dass du die Stelle nicht bekommen hast. Was war denn überhaupt los?“

      „Paul war los. Ich habe ihm erklärt, dass er sich mit aller Macht für mich einsetzen muss, wenn es klappen soll. Aber er wollte davon nichts wissen. Das ist ein fairer Wettbewerb und der Beste setzt sich durch, meinte er. Da muss der Forschungsdirektor nicht damit drohen, sich die Pulsadern aufzuschneiden, wenn sein Kandidat nicht genommen wird.“

      Julia nickte. „Ich verstehe. Er liebt das schöne Leben in Frankreich - den guten Wein, die Vielfalt der Käsesorten, die langen Ferien an der Côte d' Azur - aber ansonsten soll alles so funktionieren wie zuhause in Amerika.“

      „Na klar. Er ist so überzeugt von den Vorzügen des Wettbewerbs, dass er mehrere Leute gleichzeitig auf die gleiche Fragestellung ansetzt, anstatt die Arbeit so aufzuteilen, dass wir uns ergänzen. Was glaubst Du, warum bei uns im Labor keiner mit dem anderen spricht.“

      „Ich dachte Kazuo spricht nicht mit dir, weil du ihm den falschen Laborhocker gekauft hast.“

      Catherine hielt sich beschämt die Hand vor den Mund, wie eine japanische Dame, als sie in Julias Lachen einstimmte. Kazuo war Catherines Laborkollege. Von Anfang an war das Verhältnis zwischen dem in sich gekehrten, förmlichen Japaner und der lauten und selbstbewussten Catherine schwierig gewesen. Seit sie vor einigen Monaten zwei Laborhocker gekauft hatte, einen für sich und einen Kazuo, war die Situation hoffnungslos verloren. Sie hatte gehofft, ihm etwas Gutes tun zu können und so die Situation zu entspannen. Leider hatte sie den Hocker passend zu ihrer eigenen Körpergröße ausgesucht und dabei nicht bedacht, dass sie Kazuo um deutlich mehr als eine Haupteslänge überragte. Jetzt musste er auf seinen Laborhocker aufspringen wie auf ein Pferd und mit baumelnden Beinen arbeiten. Kaum verwunderlich, dass ihn das tief in seiner asiatischen Mannesehre traf.

      „Jedenfalls habe ich drei Wochen gebraucht, bis ich die Personaltante soweit hatte, dass sie wenigstens mal darüber nachdenken wollte, ob es nicht doch noch vielleicht eine Möglichkeit gibt. Und siehe da! Weitere Wochen sind ins Land gegangen und offenbar hat sie etwas gefunden. Irgend so einen neuen Vertrag, den der Präsident der Republik persönlich eingeführt hat,