Stadt und Gespenster. Julia Himmel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Julia Himmel
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738032567
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      Julia nickte langsam mit dem Kopf, als wenn sie einer Botschaft zustimmte, die sie schon etliche Male gehört hatte. Vorne setzte der blutleere Monsieur Lambert seine monotone Rede fort.

      „Für Sie beginnt jetzt ein langer Prozess des Nachdenkens und“, er legte eine Kunstpause ein, „ vor allem des Umdenkens. Für die wenigsten von Ihnen wird sich Ihr Adoptionsprojekt, so wie Sie sich das jetzt vorstellen, verwirklichen.“ Er ließ seinen scharfen Blick durch die Reihen der Zuhörer schweifen. In der Mitte durchlasern will der uns, dachte Sebastian.

      „Die meisten von Ihnen stellen sich einen gesunden Säugling vor.“ Lambert hob seine Fistelstimme noch anderthalb Noten höher und gab ihr etwas Vorwurfsvolles. Nur langsam fiel sie wieder in die alte Monotonie, als er seinem Publikum mit zahlreichen Statistiken zu veranschaulichen begann, wie viele hunderte von Pariser Paaren mit Adoptionsbefähigungsbescheinigung der Handvoll Babys gegenüberstanden, die anonym gebliebene Mütter jedes Jahr in die Obhut der Pariser Behörden übergaben. „Sie sehen, einfache Arithmetik genügt, um zu verstehen, dass nur die wenigsten von Ihnen das Kind bekommen werden, das Sie sich jetzt vorstellen.“

      Der Mann erinnerte Sebastian an jenen Professor, der ihn und seine Kommilitonen am ersten Studientag dazu aufgefordert hatte, sich schon einmal von beiden Nachbarn zu verabschieden, da am Ende des Vorstudiums nur noch jeder Dritte von ihnen da sein würde. Er sah sich verstohlen in den Stuhlreihen um. Nur wenige Paare schienen jünger als Julia und er zu sein. Ein weißhaariger Mann mit einer deutlich jüngeren Frau verfolgte gelassen das Geschehen. Ein schwarzes Paar hatte in den Sitzreihen vorne rechts Platz genommen, er im Anzug mit kurzer Lockenkrause, sie rund und üppig mit glatt gezogenen, im Nacken zusammengehaltenen Haaren. Beide wirkten sehr konzentriert. Mehrere weiße Männer waren in Begleitung einer Frau afrikanischer oder indischer Herkunft. Drei oder vier Frauen waren unbegleitet erschienen. Sie waren die aufmerksamsten Zuhörerinnen von allen. Einige machten sich Notizen in einen Block, den sie auf ihrem Schoß hielten.

      „Sie werden umdenken müssen“, beharrte Monsieur Lambert. „Für die meisten von Ihnen kommt nur ein älteres Kind in Frage. Oder ein Kind mit besonderen Bedürfnissen, mit Behinderungen oder Entwicklungsrückständen, das können Sie auch viel leichter bekommen. Das müssen Sie sich natürlich gut überlegen, denn das ist ein vollkommen anderes Adoptionsprojekt, als das, was Sie sich jetzt vorstellen.“

      Warum sie das immer als Projekt bezeichnen mussten, dachte Sebastian. Es gab Bauprojekte, na klar, Investitionsprojekte und Projektwochen in der Schule. Aber eine Adoption, war das ein Projekt? Ein Kind, ein Projekt? Projekte hatten für Sebastian etwas Technisches und sie zeichneten sich dadurch aus, dass sie irgendwann vollendet waren. Konnte man Adoption vollenden? Konnte das jemals fertig sein?

      Sebastian sah sich in den Reihen um. So viele verschiedene Menschen und alle vereinte ein Ziel. Dabei hatte sicherlich niemand mit all der Härte des Widerstands gerechnet, den die Vertreter der Pariser Adoptionsbehörden hier leisteten. Nicht wenige der angestrengten Gesichter um ihn herum, drückten aus, was Sebastian fühlte.

      Lambert begann zu erklären, wie ein Familienrat darüber entschied, welchem glücklichen Paar er die wenigen anonym geborenen Säuglinge aus der Obhut der Pariser Behörden übergeben würde.

      „Bei den vielen Anträgen, die Sie einreichen“, sagte er in einem Ton, der unmissverständlich zum Ausdruck brachte, dass er den Antragstellern jedes einzelne Ersuchen persönlich übel nahm, „ist es natürlich für den Familienrat leichter, nach formalen Kriterien vorzugehen, und Akten von Alleinstehenden oder unverheirateten Paaren gleich auszusortieren. Auch wenn ein Partner älter als fünfzig ist, zieht der Familienrat Sie nicht in Betracht. So viele Dossiers können Sie unmöglich einzeln prüfen.“

      „Wenn Sie darüber nachdenken, ist das auch sachlich gerechtfertigt“, beeilte sich die patent wirkende Véronique Dumont zu seiner Rechten hinzuzufügen. „Dem Gesetz nach können Sie auch als Single oder als unverheiratetes Paar adoptieren, aber wir suchen nun einmal nach der perfekten Familie und unsere Auswahl ist groß. Wir haben es mit sehr verletzlichen Kindern zu tun, die schon einmal die Erfahrung gemacht haben, verlassen zu werden. Denen müssen wir die bestmöglichen Bedingungen bieten. Deswegen gibt es auch eine Altersgrenze: Wir wollen nicht, dass die Kinder noch einmal die Erfahrung machen, ein Elternteil zu verlieren, bevor sie erwachsen werden. Vater, Mutter, Kind, das entspricht nun einmal den gesellschaftlichen Vorstellungen einer guten, stabilen Familie. Obwohl die sich natürlich auch entwickeln können, und dann entwickeln wir uns mit.“ Sie lächelte dem Publikum aufmunternd zu.

      Julia meldete sich. „Können Ausländer in Frankreich adoptieren?“

      „Selbstverständlich“, sagte Lambert. „Es gibt nichts im Gesetz, was Staatsbürger anderer Länder diskriminieren würde.“

      Allerdings hatte der Familienrat tatsächlich noch nie einem Paar ein Kind zugesprochen, wenn auch nur einer von beiden kein Franzose war, präzisierte Frau Matthieu unverzüglich. Deswegen lohnte es sich für Ausländer nicht, auf ein Kind aus Frankreich zu hoffen. Die Auslandsadoption war für sie der geeignete Weg.

      „Natürlich im Interesse des Kindeswohls“, raunte Julia Sebastian zu. Als sie seinen Gesichtsausdruck sah, verstummte sie, legte behutsam ihre Hand auf seinen Oberschenkel.

      „Kontaktlinsenkrise“, versuchte Sebastian lahm seine geröteten Augen zu erklären.

      „Auch die Bedingungen für Auslandsadoption haben sich in den vergangenen Jahren extrem verschärft“, setzte Lambert seine Rede fort. „Wenn Sie Erzählungen von Paaren kennen, die vor zehn oder zwanzig Jahren adoptiert haben, können Sie das sofort vergessen.“

      Sebastian begann sich zu fragen, ob der Mann sexuelle Befriedigung bei dem empfand, was er tat, oder ob er einfach nur potentielle Antragsteller in die Flucht schlagen wollte, um ein leichteres Leben zu haben.

      Lambert übergab das Wort an Véronique Dumont, die Spezialistin für Auslandsadoptionen. Sie hielt ein Kurzreferat über das Abkommen von Den Haag und die Adoptionsmöglichkeiten im Ausland. Die armen Länder wurden reicher und immer selbstbewusster. Sie gaben weniger Kinder zur Auslandsadoption frei, weil es mehr und mehr Inländer gab, die adoptieren wollten und konnten. Gleichzeitig erlegten sie ausländischen Paaren immer strengere Kriterien auf. In Kolumbien durfte die Mutter nicht älter als 38 sein, wenn das Paar ein Kind unter zwei wollte. Russland wollte jährliche Berichte bis zum 18. Lebensjahr des Kindes. China verlangte eine Eigentumswohnung, Ersparnisse von nicht weniger als 50.000 Euro und mindestens einen Ehepartner mit Hochschulabschluss. Es dauerte Jahre, bis einer der privaten oder öffentlichen Adoptionsvermittler ein Dossier geprüft und ein Paar akzeptiert hatte. Weitere Jahre gingen ins Land, bis man damit rechnen konnte, ein Kind zugesprochen zu bekommen. Die Auflagen waren streng. Jedes Paar musste für sich die Organisation finden, die mit den Ländern zusammen arbeitete, deren Anforderungen es am ehesten entsprach. Nur wenige Länder akzeptierten Singles. Auf keinen Fall konnte man mehrere Verfahren bei verschiedenen Organisationen gleichzeitig einleiten, um seine Chancen zu verbessern. Sebastian verstand nicht recht, ob es verboten, vielleicht mit einer Gefängnisstrafe belegt war, einfach nur unmoralisch oder praktisch unmöglich.

      „Viel zu aufwendig“, belehrte Véroniqe Dumont die Anwesenden, als hätte sie Sebastians Gedanken an seiner Stirn abgelesen. „Das werden Sie dann schon merken. Das Verfahren auf eigene Faust in die Hand zu nehmen, ist zwar im Prinzip möglich, aber besonders, wenn Sie die Sprache nicht beherrschen, ist das kaum zu machen.“

      „Auch im Ausland bekommen Sie in der Regel natürlich keine Säuglinge“, übernahm Monsieur Lambert wieder das Kommando. „In Osteuropa und Brasilien haben sie keine Chance auf ein Kind unter acht. Und das müssen Sie sich gut überlegen. Je älter das Kind, umso mehr bringt es seine eigene Geschichte mit. Dem müssen Sie gewachsen sein.“

      „Und Mali?“, fragte die schwarze Frau aus dem Publikum schüchtern.

      „In Mali können Sie noch manchmal einen Säugling bekommen“, antwortete Lambert unzufrieden. „Aber das wird auch nicht mehr lange andauern. Da strömen sie jetzt alle hin.“

      Das Publikum schien jetzt Mut zu fassen. „Russland?“, fragte