Heidi begann zu weinen. „Warum hast du keine Hilfe geholt?“, fragte sie.
„Ich lief zur nächsten Telefonzelle und wählte den Notruf. Danach ging ich zum Bahnhof. Mit meinem Gepäck, das ich in zwei Schließfächern verstaut hatte, stieg ich in den Zug nach Amsterdam; von dort flog ich am nächsten Tag nach New York. Damit ich weiterleben konnte, redete ich mir ein, Marie sei gerettet worden.“
„Was willst du nun tun?“, fragte Heidi.
„Zuerst möchte ich mir anhören, was die Polizei genau von mir will. Vielleicht ist Marie am Leben geblieben. Ich werde nicht lügen. Wenn sie mich fragen, wo ich am siebten April neunzehnhundertsiebenundachtzig war, werde ich sagen, dass ich an diesem Tag mit dem Zug von Stuttgart nach Amsterdam fuhr und am darauf folgenden Tag von Amsterdam nach New York flog. Und wenn sie mich fragen, ob ich vor der Zugfahrt im Bordell war, werde ich das nicht abstreiten.“
Zwischen zwei Tränenschüben fragte Heidi: „Was soll aus uns werden, aus unserer Familie? Oh Julia!“
Nun kamen auch mir die Tränen. „Es tut mir unendlich leid. Ich hoffe, dass Marie nicht gestorben ist.“
Nach ein oder zwei Minuten, in denen wir weinend nebeneinander saßen, trocknete Heidi ihre Tränen und schnäuzte sich. Verbunden mit einem bösen Blick warf sie mir vor: „Du hast unsere Liebe mit einer Lüge begonnen.“
Dieser Satz fühlte sich an, wie ein Biss in mein Herz. „Ich habe dich nicht belogen, ich habe nur nichts gesagt“, erwiderte ich.
„Das ist für mich das Gleiche. Ich dachte, wir hätten keine Geheimnisse voreinander.“ Enttäuscht wandte sie sich von mir ab. Als erneut Tränen über ihre Wangen kullerten, stand sie auf, nahm ihr Kopfkissen und ihre Bettdecke und zog in eines der Gästezimmer um.
„Bleib bitte bei mir“, bettelte ich.
Die nächsten Tage verliefen tränenreich. Schlimm war für mich, dass wir Julia aus diesem Drama nicht heraushalten konnten. Ihre heile Welt brach zusammen. Statt in die Schule zu gehen, blieb sie in ihrem Zimmer und weinte. Weil ich Heidi und Julia nicht in die Augen sehen konnte, ging ich ihnen aus dem Weg. Am liebsten hätte ich mich in Luft aufgelöst.
Bei der Kriminalpolizei erfuhr ich, dass Marie nicht überlebt hatte. Verdammt noch mal, im Bruchteil einer Sekunde hatte ich Maries Leben ausgelöscht und meines ruiniert. Ich rätselte, wie die Kripo überhaupt auf mich kommen konnte. Sie hätten meine Fingerabdrücke an der Türklinke und an einem Wasserglas entdeckt, hatte mir der Kommissar eröffnet. Genau genommen hatten sie nur Fingerabdrücke gefunden, ohne meinen Namen und meine Adresse. Offensichtlich waren meine Fingerabdrücke in einer Datenbank gespeichert. Aber wie kamen sie dorthin? Schlagartig ging mir ein Licht auf: Als ich vor ein paar Monaten einen neuen Reisepass beantragte, willigte ich ein, meine Fingerabdrücke erfassen und im Ausweis elektronisch speichern zu lassen. Dadurch werde der Pass zu einem Unikat, das nicht gefälscht werden könne, hatte die Angestellte auf der Behörde mir erklärt.
Weil es sich nicht um Mord sondern um Körperverletzung handelte, war meine Untat verjährt und wurde nicht weiter verfolgt. Aber die Schuld, die ich auf mich geladen hatte, drückte mich zu Boden, und nicht nur mich; die beiden Menschen, die ich am stärksten liebte, riss ich mit mir ins Unglück. Außer wahnsinnig werden, konnte ich nichts mehr tun. Deshalb empfand ich es wie eine Erlösung, als Heidi sagte: „Ich kann dich nicht mehr achten; du musst fortgehen, möglichst weit weg.“ Selbst in der Katastrophe bewahrte sie Haltung. Ich hätte mich nicht beschweren können, wenn sie mich angebrüllt hätte: „Hau ab, du hast alles kaputt gemacht.“
Aber wohin sollte ich gehen? Ich hatte doch hier meine Arbeit. Tränen rollten über meine Wangen, als ich mich am Abend in meinen BMW setzte und Gas gab. Ich schaltete das Radio ein, hörte aber kaum auf die Musik, bis Janis Joplin von Bobby McGee sang. Eine Zeile summte ich mit: „Freedom’s just another word for nothin’ left to lose …..“
Weit kam ich nicht. Nach wenigen Kilometern sperrte die Polizei mit viel Blaulicht die Bundesstraße, weil ein Auto gegen einen Brückenpfeiler gekracht war. Eine Polizistin forderte mich auf zu wenden und in die Richtung zu fahren, aus der ich gekommen war. Dass es keine andere Möglichkeit gab, sah ich sofort ein. Während ich von der Unfallstelle wegfuhr, bemerkte ich, dass mein Kopf alle paar Sekunden zuckte. Da auch meine Arme und Beine unkontrollierte ruckartige Bewegungen machten, folgte ich dem Hinweisschild zu einem Landgasthof. Offenbar nahm mich der Crash des anderen Autos ziemlich mit. Hatte er das gemacht, was ich selbst vorhatte? Wie dem auch sei, ich sollte ihm danken, dass er mich davon abhielt in den Tod zu rasen. Ein Funken Hoffnung zündete in meinem Gehirn: Vielleicht kann ich weit weg von hier ein neues Leben beginnen. Der nächste Gedanke brachte mich zurück in die Gegenwart: Zuerst muss ich die Probleme hier lösen.
Auf dem Parkplatz des Gasthofs wartete ich im Auto, bis ich mich beruhigt hatte. Dann stieg ich aus und ging zur Rezeption, zu einer freundlich blickenden Dame. Meine Frage, ob sie ein freies Zimmer hätten, beantwortete sie mit „ja“. Flink schob sie mir den Block mit den Anmeldeformularen zu und fragte, wie viele Nächte ich bleiben wolle. Zunächst nur eine Nacht, antwortete ich, aber leicht könnten daraus mehr werden. Mit ruhiger Hand füllte ich das Formular aus und schob den Block zurück zu ihr. Lächelnd warf sie einen Blick darauf, dann gab sie mir den Schlüssel zu Zimmer 107 im ersten Stock. Wenn ich noch etwas essen wolle, solle ich mich beeilen, sagte sie, die Küche schließe in einer halben Stunde.
An Essen hatte ich nicht gedacht, aber jetzt, da sie es erwähnte, wurde mir bewusst, dass ich zuhause nichts gegessen hatte. Großen Hunger verspürte ich nicht. Ob ich etwas Kleines bekommen könne, fragte ich, ein Schinkensandwich und dazu ein Bier. Selbstverständlich, erwiderte sie.
Gerne hätte ich mich mit einem Lächeln bei ihr bedankt, konnte aber nicht, weil die schmerzvollen Gedanken an Heidi und Julia ein Lächeln nicht zuließen. Ich wolle einen Blick in das Zimmer werfen, sagte ich, nahm den Schlüssel und machte mich auf den Weg zu Zimmer 107. Schön, war mein erster Eindruck; ein geräumiges Zimmer mit einem großen Fenster, das sich auf eine Wiese mit Obstbäumen öffnete. Hellbraun gebeizte Möbel aus Buchenholz und das Bild eines Sonnenaufgangs in den Bergen gaben dem minimalistisch mit Bett, Schrank und Sitzecke eingerichteten Raum ein heimeliges Flair. Eine Tür an der Wand neben dem Bett führte in ein Badezimmer mit Handwaschbecken, Dusche und WC. Ich freute mich über das kleine Stück Seife und den Portionsbeutel mit Duschgel, denn ich hatte kein Waschzeug dabei, auch keinen Rasierapparat und keine Zahnbürste. Die Zähne konnte ich zur Not mit Kaugummis putzen. Davon hatte ich immer welche in der Tasche, weil ich die Gummis als Mittel gegen Sodbrennen kaute. Durch Kauen bilde sich vermehrt Speichel, und der neutralisiere die Magensäure, hatte mir Doktor Aschenbach, unser Hausarzt, erklärt.
Zurück im Wohnschlafraum lockte mich das Bett zu einer Liegeprobe. Die Matratze fühlte sich so gut an, dass ich am liebsten liegen geblieben wäre. Allein die Lust auf ein kühles Bier warf mich aus dem Bett. Bevor ich hinunter ins Restaurant ging, nahm ich aus dem Umschlag mit der Aufschrift Willkommen, der auf dem kleinen Tisch an der Sitzecke für mich bereit lag, einen Notizblock und einen Kugelschreiber, beide mit der Adresse des Landgasthofs bedruckt. Beim Essen wollte ich aufschreiben, was ich alles tun musste und in welcher Reihenfolge.
Ob man mir ansah, dass ich dem Tod nah war, fragte ich mich, als im Restaurant einige Gäste mich anstarrten und die Bedienung sich erkundigte, wie es mir gehe. Nicht besonders, antwortete ich, auf der Landstraße habe es einen schlimmen Unfall gegeben. Oh je, davon hätten sie hier nichts mitbekommen, sagte sie. Wie wenn sie das Unglück von ihrer rosigen Jugend fern halten wollte, wechselte sie sofort das Thema: Den Rostbraten mit Kartoffelpüree und Blaukraut könne sie mir empfehlen. Ich schüttelte den Kopf. Ich wolle nur etwas Kleines essen, ein Schinkensandwich oder Schinkenbrot und dazu ein großes Pils.
Ein Bauernbrot mit Schinken notierte sie. Pils hätten sie nur in Flaschen, nicht vom Fass. Als sie mein okay hörte, rauschte sie ab zur Theke.
Rasierapparat, Zahnbürste, Kulturbeutel, Unterwäsche, Kleidung waren die ersten Worte auf dem Notizblock. Was in eine Tasche und einen Koffer passte, würde ich morgen aus unserem Haus holen.
Mit Walter