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Ich habe mich noch nie in meinem Leben so wohl gefühlt. Ich liege auf dem Rücken, aber es ist fast, als ob ich schwebte, meine Muskeln völlig entspannt. Ich glaube, mich erinnern zu können, dass ich vor wenigen Minuten noch etwas Angst hatte, fast Panik, nachdem ich versucht hatte, den linken Arm zu bewegen, aber zu wenig Platz da war, und wieder dieses Gefühl, dass mein Atem von etwas knapp vor meinem Gesicht abprallt und gleich wieder zurück in mein Gesicht kommt. Wie lächerlich. Ich bin hier sicher und bestens versorgt. Der Sauerstoffanteil stimmt genau, ich spüre keinen Hunger und mein Hormonhaushalt ist gut reguliert. Wir werden bald in Danwei ankommen, und dort ist für alles gesorgt. Meine Muskeln völlig entspannt, mein Atem ruhig. Ich lasse mich sinken und freue mich auf Su.
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Als ich am nächsten Morgen erwachte, war es schon sehr hell. Das Zimmer war leer, das Krankenbett mit dem Jungen und auch der Rollstuhl verschwunden. Fast als hätte ich das alles nur geträumt. Ich stand auf, zog mich an und öffnete das Fenster. Ja, es gab also doch eines, es musste letzte Nacht durch die Rollläden so verdunkelt gewesen sein, dass ich es nicht sehen konnte. Die Sonne stand schon sehr hoch, aber die Dorfstraße sah wie wohl immer sehr ruhig aus. Ich ging runter ins Gasthaus, um zu frühstücken.
Die Uhr im Schankraum zeigte elf. Scheiße, ich hatte Christoph versäumt. Ich war auch die einzige Person im Raum, nicht nur keine anderen Gäste, auch niemand von den Wirtsleuten war da. Ich ging zur Küchentür, klopfte, trat ein. Der alte Mann saß neben dem großen Küchentisch auf einem Sessel und sah etwas müde vor sich hin. Der Rollstuhl stand im Hintergrund vor einem Fenster, über der Rückenlehne war der Kopf des Jungen zu sehen. Er hing etwas zur Seite, bewegte sich nicht. Aber vielleicht war er nur vor dem Fenster eingeschlafen.
Der alte Mann willigte gleich ein, mir trotz der späten Stunde noch ein Frühstück zu machen. Seine Frau schicke mir Grüße und hoffe, dass ich durch die kleinen Störungen in der letzten Nacht nicht allzu sehr um meinen Schlaf gekommen sei. Mit erstaunlich flinken Händen bereitete er das Frühstück zu. Während ich noch auf das Frühstücksei wartete, begann der Junge seinen Kopf unruhig hin und her zu werfen und etwas Unverständliches zu stammeln. Der alte Mann sagte in liebevollem Ton einige beruhigende Worte, ging zum Jungen hin, streichelte sanft über seinen Kopf und küsste ihn. Ich holte mein Frühstücksei aus dem kochenden Wasser und ging auf die Terrasse. Für das Frühstück blieb nicht viel Zeit, der Bus zum Hospital fuhr schon um elf Uhr vierzig.
Im Bus saßen vor allem Frauen und ein paar ältere Männer. Sie fuhren wohl zum Einkaufen in die kleine Stadt, oder zu einem Arztbesuch. Ich setzte mich ans Fenster, sah im Vorbeifahren noch einige Ausläufer des Lavagesteins, ansonsten aber eine Landschaft, die viel grüner war als ich das von einer Insel in diesen Breiten erwartet hätte.
Die Klinik war sehr klein. Als ich auf das Tor zuging, kam ich an einem Mann in den Dreißigern vorbei, der mit einem ziemlich blassen Gesicht aber entspannten Zügen wenige Schritte vor dem Eingang stand. Seine Hose war um Hintern und Hüften ziemlich aufgebläht, deshalb sein Hosenschlitz auch nur behelfsmäßig geschlossen. Er hatte wohl einen kleineren operativen Eingriff hinter sich und rauchte gerade wieder seine erste Zigarette, die er noch nicht sehr gut zu vertragen schien. Ich sagte auf Spanisch und in fragendem Tonfall die Abteilung, in die ich gehen wollte. Der Mann warf seine nur halb gerauchte Zigarette auf den Boden und trat sie aus. Seine Gesichtsfarbe war in einen bedenklich grünlichen Ton umgeschlagen. Eine Antwort brachte er nicht mehr heraus, aber er deutete mit dem Kopf in Richtung eines kleinen Gebäudes gleich links neben dem Eingangstor.
Die einzige Schwester, die ich auf dem Gang sehen konnte, war gerade damit beschäftigt, einem sehr alten Mann, der offensichtlich gerade jemanden besucht hatte, den dünnen Kunststoffschurz und ein Kunststoffhäubchen auszuziehen. Der Mann war entweder sehr gefasst oder aus totaler Überforderung zu keiner Reaktion mehr fähig. Die Krankenschwester erzählte ihm – wohl schon zum wiederholten Mal –, dass sich der Zustand seiner Frau leider abrupt verschlechtert habe und sie deshalb hierher verlegt worden sei. Sie hoffe, dass seine Frau bald wieder erwache, man könne aber derzeit nichts Genaues sagen und der Zustand sei insgesamt leider sehr ernst. Ohne die Schwester anzusehen, verabschiedete sich der Mann in sehr höflichem Ton und bewegte sich dann in seinem langsamen gebrechlichen Gang zur Tür. Ich hätte eigentlich nicht mehr zu fragen brauchen – ich war hier natürlich in der falschen Abteilung, der Mann mit dem grünen Gesicht war aber nicht ganz falsch gelegen, die angegebene Richtung hatte gestimmt - die Abteilung, in die ich wollte, war im nächsten Gebäude.
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Die „Asiatin“ war – wohl nicht zuletzt auch wegen der seltsamen Geschichte ihrer „Seenot“ – in dem kleinen Hospital allseits bekannt und der Turnusarzt, den ich im Schwesternzimmer antraf, zeigte mir ohne nachzufragen den Weg zu ihrem Zimmer. Auf dem Bett saß halb aufgerichtet eine junge Frau, aber es war nicht dieselbe, die ich gestern getroffen hatte.
„Su“, antwortete sie auf meinen fragenden Blick, „left this morning and went back to Agniste. She has to take care of Yann, and in fact she does not need medical treatment any more.“
Die Cousine hieß Mei. Sie war gestern gerade noch rechtzeitig vor Einbruch der Dunkelheit gefunden und ins Hospital gebracht worden. Sie hatte insgesamt fast sieben Stunden im Wasser verbracht und musste vor allem wegen der erlittenen Unterkühlung noch behandelt und weiter beobachtet werden.
Mei bemühte sich, gefasst zu wirken, und sie schaffte das über weite Strecken auch. Ihr sehr offenherziger Umgang mit mir deutete auch darauf hin, dass sie ein positiver Mensch war, offen und optimistisch. Sie forderte mich auf, meine Sandalen auszuziehen und mich bequem aufs Bett zu setzen. Wenn sie in ihren Erzählungen lebhaft wurde, kam es auch vor, dass sie mir mal einen freundschaftlichen Klaps gab oder beide Hände auf meinen Unterarm legte.
Aber es gab dazwischen immer wieder kleine Zusammenbrüche. Der Ton änderte sich dann, etwa wenn sie davon erzählte, dass sie trotz der Enge letzte Nacht gemeinsam mit Su in einem Bett geschlafen habe und dennoch oft aufgewacht sei, meist mit einer kurzen Panikreaktion, weil sie im ersten Moment des Aufwachens dachte, dass sie gerade eingenickt war und dabei ihre Hände von der Boje abgeglitten seien und sie jetzt wohl aufs offene Meer raustreibe.
Ich wollte das Thema wechseln und fragte, wo sie denn in Agniste wohnten. Ihr Aufenthaltsort war eher inoffiziell: die noch im Bau befindliche Wohnhausanlage am Dorfrand, die unmittelbar an die Lavalandschaft angrenzte. Die Bauarbeiten seien wegen einer Erbschaftsstreitigkeit oder etwas Ähnlichem schon zu Frühjahrsbeginn unterbrochen worden. Der Großteil des Gebäudes war noch Rohbau, nur in einigen Wohnungen waren die Wände schon großteils verputzt und die Wohnungstüren eingehängt. Einige wenige Räume hatten Su und Mei selbst bunt ausgemalt, um ihr Ferienhotel ein wenig freundlicher zu gestalten.
Eine Freundin von ihnen, die in Sevilla lebte, kannte einen der Vorarbeiter, der mittlerweile von der Baufirma mangels Aufträgen gekündigt worden war, aber den Schlüssel zu einem der Vorhängeschlösser, mit denen die Baustelle behelfsmäßig versperrt worden war, noch hatte. Gloria würde in einigen Tagen auch selbst herkommen; sie hatte noch weitere Freundinnen und Freunde zu einem Treffen nach Agniste geladen.
Ich warf Mei einen interessierten Blick zu, der aber gleichzeitig auch zurückhaltend war und sie eher einlud als aufforderte, mehr über dieses Treffen zu erzählen. Zum ersten Mal in unserem Gespräch bemerkte