Die kleinen Gasthäuser und Restaurants hatten sich schon auf die Situation eingestellt – alle Kerzen zusammengetragen, die sie kriegen konnten, die Getränke in kaltem Wasser so gut wie möglich gekühlt, eine einfache Fischsuppe oder ein kleines Fleischgericht am Propangasherd zubereitet.
Die aus den Gasthäusern scheinende Kerzenbeleuchtung war auch die einzige Lichtquelle in den Gassen. Die Atmosphäre hatte etwas Gespenstisches, weil einerseits alle Leute auf der Straße waren, als wäre heute der wichtigste Festtag des Jahres. Gleichzeitig war es sehr ruhig, weil alle sehr bedächtig gingen, um nicht im fast vollständigen Dunkel über eine kleine Unebenheit oder über einen der ansonsten den Straßenrand säumenden Gegenstände – von kleinen Tischchen, Sesseln für die Siesta im Schatten bis zu Maurerkübeln – zu stolpern.
Ich hatte mir in einer Bar eine Flasche Bier gekauft, für eine Weile die Leute beobachtet und ging nun etwas in Gedanken versunken und gleichzeitig langsam und vorsichtig in Richtung der kleinen Strandpromenade, die eigentlich nur ein Sträßchen war, an dem es ein Gasthaus und zwei kleine Cafés gab.
Ich hatte den Stromausfall bemerkt, als ich am späteren Nachmittag vom Strand zurück in mein Zimmer kam und mein Mobiltelefon – meine einzige Uhr – an das Ladegerät anschloss, bevor ich in die hinter dem Kasten etwas versteckte improvisierte Dusche stieg. Ich hatte aber nicht damit gerechnet, dass das zu so einem kleinen Ausnahmezustand führen könnte, und erinnerte mich erst langsam wieder daran, als ich mich beim Spaziergang durchs Dorf wunderte, dass die Straßenbeleuchtung nicht eingeschaltet wurde, und ich die ersten nur durch Kerzen beleuchteten Gasthäuser sah. Das Gerücht mit den 24 Stunden, das ich bald darauf aus der Unterhaltung eines englischen Tourist*innenpaares aufschnappte, beunruhigte mich dann ein wenig. Falls die Dunkelheit wirklich die Nacht über andauerte, wusste ich nicht recht, wie ich zurück in mein Zimmer kommen und dort zu Bett gehen könnte. Ich hatte mich nicht rechtzeitig darum gekümmert und es sah auch nicht so aus, als ob man im Dorf noch irgendwo eine Taschenlampe oder andere windsichere Lichtquelle bekommen konnte. Der Weg zurück führte in einem Bogen am kleinen Sandstrand vorbei und ich hatte in den zwei Tagen, die ich jetzt hier war, nach dem Strand immer eine Abkürzung über ein paar Felsen genommen und konnte mich nicht mehr genau erinnern, wo der ebene Weg verlief. Wenn ich das mit Hilfe des sehr matten Mondlichts schaffte, hatte ich auch im Zimmer dann kein Licht, und mein Verhältnis zu den Vermieter*innen war auf ein wenig Smalltalk bei der Anmeldung beschränkt geblieben und nicht wirklich die Voraussetzung, um sie in der Nacht zu wecken und nach einer Taschenlampe zu fragen. Sollte ich doch für die alte Holzhütte eine Kerze klauen?
Ich hatte also das Bedürfnis, den Moment, an dem ich beschließen würde müssen, dass ein Einschalten des Stroms nicht mehr zu erwarten war und ich mich im Dunkeln auf den Heimweg machen müsse, so weit wie möglich hinauszuschieben und hatte mir – man schätzt da auch die Zeit falsch ein, es war gerade erst zweiundzwanzig Uhr – noch ein Bier gekauft.
Die Atmosphäre war sehr angenehm. In der ungewöhnlichen Situation waren die Leute emotional näher aneinandergerückt, das vorsichtige leise Gehen in der Dunkelheit, die weichen Konturen der Schatten, das Ineinanderfließen der fast flüsternden Stimmen. Zum ersten Mal in den zwei Tagen fühlte ich mich nicht ausgeschlossen. Dazu die Meeresluft und das leise Rauschen des Ozeans, als ich an der Strandpromenade ankam. Ich ging ein paar Schritte auf die Kaimauer hinaus. Der kühle Wind war sehr angenehm, der Ozean wirkte nicht dunkler als die Straßen und Häuser. Ich ging in die Hocke, setzte mich leicht auf meine Fersen, die Hände auf den Oberschenkeln abgestützt, und sah auf den Ozean hinaus. Und plötzlich war die Einsamkeit wieder da, die Illusion zusammengebrochen, und die Melancholie kam um vieles verstärkt wieder zurück. Ich weiß nicht, wie lange ich dort so hockte. Ich hatte das Bier ausgetrunken und die leere Flasche am Kai abgestellt. Der Kopf, der Blick hatte sich zu Boden gesenkt. Irgendwann hatte ich wohl auch die Augen geschlossen, vielleicht sogar geweint. Als ich mich zum Dorf zurückdrehte, waren wieder Lichter zu sehen, die Straßenbeleuchtung, noch eine Bar, in der aufgeräumt wurde, die Gassen ansonsten menschenleer. Ich machte mich auf den Heimweg.
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Bizarre Landschaften korrespondieren wohl mit solchen Gemütszuständen und eine gewisse Harmonie stellt sich ein. Ich hatte das schon einige Male erfahren und so hatte es mich gleich nach meiner Ankunft an den Rand des Dorfes gezogen, an dem diese archaische marsähnliche Vulkanlandschaft begann.
Auch wenn ich am Vortag lange nicht einschlafen konnte und heute Morgen erst spät erwachte, machte ich mich auf den Weg, um wie an den Tagen zuvor einige Stunden durch diese Marslandschaft zu wandern. Als erstes Stück gleich nach dem Dorfausgang bot sich an, einen Weg direkt an der Fels-, oder eigentlich Lavaküste einzuschlagen. Man ging hier auf einem Plateau aus Lavagestein, das vielleicht drei Meter über dem Meer lag. Die Brandung schlug gegen die Lavafelsen und das hohle Gestein hatte dem wohl auf Dauer nicht viel entgegenzusetzen. Je näher man der Kante zum Meer kam, desto mehr und größer wurden die Löcher im Boden. Das Plateau war an manchen Stellen gut 10 bis 20 Meter weit vom Wasser unterspült.
Ich hockte mich an den Rand eines solchen Lochs im Lavaboden, relativ nahe schon an der Kante zum Wasser. Man sah im Loch unten die Wellen an die Felsen schlagen, manchmal spritzte das Wasser bis herauf. Es wurden in großer Zahl handtellergroße Krebse an die Felsen gespült. Wenn die Krebse die Felsen berührten, reagierten sie mit blitzartigen Bewegungen in seitlicher Richtung. Manchmal wurden sie von größeren Wellen nochmals erfasst und fast bis aufs Plateau heraufgespült. Ich wich dann immer instinktiv einen Schritt zurück, und das ekelige Gefühl, das die Vorstellung, da unten in diesem hektischen Gewusel der Krebse im Wasser zu stehen, auslöste, wurde für einen Moment körperlich spürbar und ich konnte es nur durch ein befreiendes Schütteln des ganzen Oberkörpers wieder loswerden.
Ich ging weiter, entfernte mich immer mehr vom Wasser und ging auf die ersten aus den Lavafelsen entstandenen Hügel zu. Während man entlang der Küste immer wieder Spaziergänger*innen traf, war es hier schon völlig menschenleer. Der Boden wurde schnell sehr unwirtlich. Waren es am Plateau am Meer vor allem große Felsen, so dominierte hier über weite Strecken das Geröll. Es gab zwar einige Pfade, und man konnte sich oft Wege durch die geröllübersäten Flächen suchen, musste dafür aber meist ein paar Meter Weg im Voraus planen. Ich war auf diese Wanderungen nicht vorbereitet gewesen und hatte keine festen Schuhe mitgenommen. Die Lederturnschuhe, die ich einmal angezogen hatte, lösten das Problem auch nicht wirklich: Sie waren in der Mittagshitze kaum noch zu ertragen und andererseits aber nicht fest genug, um bedenkenlos durch das Geröll gehen zu können. Ich hatte auch meine anfängliche Befürchtung, dass es hier Schlangen geben könnte, überwunden, da ich bei den ersten Wanderungen außer Vögel und Insekten keinerlei Tiere sah. Ich war also wieder in meinen Sportsandalen unterwegs, musste aber nun schon darauf achten, nicht abzurutschen und mich am Geröll zu verletzen, das teilweise spitz war oder scharfe Kanten hatte.
Das Lavagestein war hohl – wenn man mit voller Wucht auf einen der mittelgroßen Felsen sprang, brach die Decke ein und man konnte den Hohlraum sehen. Auf dem aus diesem Gestein gebildeten Boden war Splitt. Das ergab beim Gehen diesen Klang als würde man auf dem Mars spazieren. Etwas Schleifendes: Splitt auf extrem ausgetrocknetem hohlem Untergrund. Ansonsten Stille.
Ich kam hier nochmal in Sichtweite der Autostraße zum Dorf, die durch einen Teil der Vulkanlandschaft gebaut worden war und wirkte wie ein um Jahrtausende verspäteter Strom heißen zähflüssigen Materials, das sich seinen Weg durch die vorzeitliche Lavalandschaft gebahnt hatte. Nach dem nächsten Hügel war die Straße nicht mehr zu sehen.
Das vorsichtige Gehen durch das Geröll, dazwischen das Springen von einem größeren Stein zum nächsten, der Kampf gegen das Abrutschen im Geröll beim Überqueren der Hügel, all das hatte mich sehr angestrengt. Ich blieb stehen, nahm meinen Rucksack ab, sah auf mein Handy – schon nach 14 Uhr; welch ein Unsinn, in der schlimmsten Mittagshitze hier durch diese Schieferwüste zu gehen! Der Akku war fast leer, das Aufladen am Vortag ja am Stromausfall gescheitert.
Ich trank die halbe Wasserflasche leer und griff zum MP3-Player. Auch etwas Pause vom schleifenden Geräusch beim Gehen. „If I had a heart I could love you.“ Der alte Song von Fever Ray überhöhte