Aufwachstory. Anatol Flug. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Anatol Flug
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738006148
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Mei sprach weiter. Der ursprüngliche Grund für das Treffen sei die Entdeckung im „Kronos“-Schwarm. Der folgende Aufruhr, der durch die ganze Welt ging, die plötzlich offen scheinende Zukunft, habe vielen – und keineswegs nur jungen – Leuten Hoffnung gegeben, vor allem auch jenen, die von den auf die früher so genannte „Antiglobalisierungsbewegung“ folgenden Entwicklungen enttäuscht waren.

      Die schleichende Normalisierung im folgenden halben Jahr wäre eine umso größere Enttäuschung gewesen, und Gloria habe einige Leute zusammengetrommelt, die wahrscheinlich sehr verschiedene Meinungen vertraten, aber in der einen übereinstimmten, dass sie keinesfalls vorhatten, das einfach so stehen zu lassen und sich irgendwelchen Theorien des sophistizierten Abwartens und des Zelebrierens von Mikroverschiebungen hinzugeben, sondern dass unbedingt etwas Entschlossenes getan werden müsse. Die Frage nach dem „Ob“ gebe es in diesem Kreis nicht, sondern nur die Frage nach dem „Was“.

      Schon die Umstände, unter denen die Entdeckung im „Kronos“-Schwarm stattfand, waren ziemlich unglücklich. Tatsächlich würde man sich einen historischen Vorgang wie das Auffinden des Beweises, dass es Leben im All gibt, heroischer vorstellen. Unbestrittene Entdeckerin war Maude O‘Connor, eine Informatik-Studentin aus dem amerikanischen Mittelwesten. Sie arbeitete in ihrem PhD-Projekt an der Entwicklung einer neuen Bildbearbeitungsmethode, mit deren Hilfe alte digitale Bilddateien bei der Nachbearbeitung so detailliert analysiert und neu berechnet werden konnten, dass Bildinhalte nochmal viel deutlicher sichtbar wurden.

      Maudes Nebenfach war Astronomie gewesen und so hatte sie um ein Stipendium am internationalen Raumfahrtarchiv angesucht und dort dann mehr oder weniger zufällig die Fotos vom sogenannten „Kronos“-Schwarm gewählt, einer kleinen Ansammlung von Meteoriten, die Anfang der Neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts relativ nahe an der Erde vorbeiflogen und dann in die Sonne stürzten.

      Was Maudes Bildnachbearbeitung nach zwei Jahren Arbeit zum Vorschein brachte, war, dass es in dieser „Ansammlung“ nicht nur Gestein gab, sondern auch einen Gegenstand, der einfach eine Sensation sein musste, weil er eindeutig weder natürlich war noch von Menschen geschaffen.

      Maudes Interpretation, die um einiges später so gut wie alle Fachleute teilen sollten, war, dass es sich wahrscheinlich um eine Forschungssonde handelte, die, wie das ja auch bei jenen geschieht, die von der Erde aus ins All geschossen werden, nachdem sie ihre Aufgabe erfüllt haben und sie außer Reichweite der Kommunikation mit dem Heimatplaneten gelangten, einfach im luftleeren Raum weiterflogen, bis sie mit einem Objekt im All kollidierten.

      Maude war in keinster Weise politisch-emanzipatorisch orientiert, sondern eher von der durch Verschwörungstheorien und Phobien gegenüber großen Institutionen geprägten Atmosphäre beeinflusst, durch die ihre kleine Heimatstadt geprägt war. Als sie begriff, was für eine Entdeckung sie da gemacht hatte, kamen diese Phobien bald hoch. Sie wollte um jeden Preis verhindern, dass ihre Entdeckung weggeschlossen wurde, und so verbreitete sie die überarbeiteten Bilder zusammen mit ihrer Interpretation über mehrere Kanäle im Internet.

      Die Raumfahrtindustrie reagierte umgehend. Maude durfte ihren Arbeitsraum im Archiv nicht mehr betreten, ihr Computer wurde beschlagnahmt. Um sich Wettbewerbsvorteile zu sichern, versuchten einige Konzerne, Maudes Entdeckung in der Öffentlichkeit herunterzuspielen, die Bearbeitungsmethode lächerlich zu machen, und gleichzeitig versuchten sie, das Material in die Hand zu bekommen, um eigene Forschungen betreiben zu können.

      Das Herunterspielen in der Öffentlichkeit funktionierte nicht lange. Es galt als bewiesen, dass es Leben im All gab und die Welt war in Aufruhr! Auch wenn es ernüchternd war, dass dies wieder nur angesichts eines potenziellen äußeren Feindes möglich wurde, so hatte es doch etwas sehr Positives, dass sich in kürzester Zeit ein Gefühl der Einheit auf dem Planeten entfaltete, die eben nicht die enormen sozialen Unterschiede legitimierte, sondern im Gegenteil die dringende Notwendigkeit von deren Überwindung zur hegemonialen Überzeugung zu machen schien.

      Für Entwicklungen in diese Richtung waren die gesellschaftlichen und politischen Voraussetzungen nach langen Jahrzehnten neoliberaler Ideologie einfach nicht gegeben, und so war absehbar, dass hier grobe Rückschläge kommen mussten. Hinzu kam, dass schon fast drei Jahrzehnte vergangen waren, seit die Sonde die Erde passiert hatte, und seither nichts geschehen war, jedenfalls hatte man bei den nun massenhaft durchgeführten Sekundärauswertungen alten Bildmaterials nichts gefunden. Und der unbeholfene Beginn der Entdeckung erwies sich als längerfristige Belastung. In Phasen des Abebbens wurden immer wieder die alten von den Konzernen in Auftrag gegebenen Gutachten zitiert, die Maudes Bearbeitungsmethode lächerlich machen wollten, und damit rhetorisch wieder alles in Zweifel gezogen, obwohl auf wissenschaftlicher Ebene längst alle Zweifel beseitigt waren.

      Ein Nachlassen der Euphorie war also durchaus verständlich, aber das Ausmaß dessen war unfassbar, vor allem natürlich für jene, die in der Entdeckung den absoluten politischen Glückstreffer sahen, der unversehens längst überfällige politische Umwälzungen in Gang setzen konnte. Es war sicher auch nicht nur die überzogene Wahrnehmung linker Optimist*innen gewesen, dass wenige Wochen nach Bekanntwerden der Entdeckungen nicht nur Euphorie zu spüren war, sondern sich vielerorts eine ungeheure Spannung auflud und nach diesen langen Jahren, in denen die gleichsam ins Unendliche prolongierte „Finanzkrise“ als Mittel diente, um die öffentlichen Strukturen immer weiter zu zerstören, die politische Atmosphäre zunehmend hitziger wurde. Und ein halbes Jahr später war alles wie weggewischt, als wäre die Entdeckung von Leben im All nicht mehr gewesen als die Landung einer kleinen Forschungssonde auf der Venus zwei Jahre davor.

      Das Einzige, was vorerst blieb, war ein Wachstumsschub in der Raumfahrtindustrie, die langsam einen Teil der geheim gehaltenen Projekte der letzten Jahrzehnte publik machte und daran anschließend vor allem die Forschungen und Experimente zur Besiedelung anderer Planeten forcierte. Zu einer Neuausrichtung der globalen gesellschaftlichen und philosophischen Perspektiven, wie sie einer solchen historischen Entdeckung angemessen wäre, gab es aber keinerlei Ansätze mehr.

      Mei kam daher auch lieber auf die verbleibenden Hoffnungen zu sprechen und erzählte von einigen der Leute, die zum Meeting kommen würden, und von den meist aktivistischen Gruppen, in denen sie sich engagierten. Die Erzählungen zu einzelnen Gruppen blieben dabei recht fragmentarisch und es war zu spüren, dass ihr das Ungestüm mancher Leute nicht ganz geheuer war. Gleichzeitig war die Entspannung deutlich angesichts der gerade im Erzählen aktualisierten Kreativität und Unverwüstlichkeit dieser Kollektive.

      Meis Laune hatte sich deutlich verbessert. Sie freute sich auf das Treffen, und da sie, Su und Yann jetzt schon seit einigen Wochen hier lebten, war nicht mehr zu befürchten, dass sie entdeckt würden und dann Probleme bekämen. Die Nachbarn hatten sicher schon mitbekommen, dass sie hier lebten. Es dürfte ihnen aber völlig egal sein. Mei hatte auch erfahren, dass sich beide Streitparteien, die jetzt um das Erbe prozessierten, im Dorf schon extrem unbeliebt gemacht hatten durch ihr protziges Auftreten und die ständigen Versuche, alles im Dorf, das sie nur irgendwie interessant fanden, gleich aufzukaufen, einschließlich des Küstenstreifens mit den unterspülten Löchern im Lavagestein, zu denen viele Männer aus dem Dorf am frühen Morgen spazierten, um Krebse einzusammeln.

      Mei schien vom Erzählen schon sehr angestrengt und müde und ich begann, mich zu verabschieden. Mein Rucksack war in ihrem Kasten. Sie bat mich, ihn mir selbst rauszunehmen, und sagte in neckischem Tonfall, dass ich damit nun keinesfalls meiner Pflichten enthoben sei. Su habe von mir immer nur als ‚dem Retter‘ gesprochen und wolle mich unbedingt kennenlernen. Ich müsse sie unbedingt in ihrer Wohnbaustelle besuchen. Sie sei jetzt ja auch ganz allein mit Yann und würde sich sicher über Besuch freuen. Ich fragte nicht nach, wer Yann war. Schon aus der Formulierung und auch aus Meis Ton wurde deutlich, dass jedenfalls keine Probleme zu erwarten waren. Ich versprach, Su gleich heute noch zu besuchen, fügte aber etwas traurig hinzu, dass ich nicht wisse, ob Mei und ich uns nochmal sehen könnten – mein Flug zurück nach Teneriffa gehe schon übermorgen. Mei ging auf die Möglichkeit, dass wir uns nicht wiedersehen könnten, gar nicht ein. Sie beugte sich leicht vor und wir verabschiedeten uns mit zwei freundschaftlichen Küssen auf die Wangen.

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