Aufwachstory. Anatol Flug. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Anatol Flug
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738006148
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ursprünglich dachte, sondern gut vierzehn oder fünfzehn Jahre alt sein mochte – wirkte jetzt auch wacher, sogar der Anflug eines Lächelns umspielte seine Lippen.

      Eine attraktive Frau Ende dreißig kam in die Küche – ohne Zweifel seine Mutter – und die Atmosphäre änderte sich schlagartig. Sie sprach in knappen scharfen Sätzen mit ihm, keinerlei Mitleid mit dem behinderten Sohn war in ihrer Stimme zu erkennen. Und der Sohn reagierte offensichtlich mit Schimpfen – für mich war kein Wort zu verstehen, aber der Ton war ziemlich eindeutig. Die Mutter verließ die Küche gleich wieder und ging zurück in den Schankraum, um die letzten Vorbereitungen für die abendliche Öffnungszeit zu treffen.

      Ich fragte den alten Mann nach einem Zimmer. Er antwortete, dass das provisorische Gästezimmer schon belegt und ansonsten höchstens noch ein Platz im Kinderzimmer zu haben sei. Der Preis war sehr günstig, und da es ja ohnehin nur für eine Nacht war, sagte ich einfach zu und bezahlte auch gleich.

      Ich ging zurück an Christophs Tisch. Die Wirtin hatte mittlerweile begonnen, die Bestellungen aufzunehmen. Wir kamen schnell überein, eine Flasche Rotwein zu bestellen und nach der Speisekarte zu fragen. Wir sahen beide etwas verträumt der Kellnerin nach. Christoph, der durch seine Geschäftskontakte perfekt Spanisch sprach, hatte schon einige Informationen. Ihr Name war Maria, sie war tatsächlich die Mutter des behinderten Jungen, der alte Mann war aber nicht, wie offensichtlich schien, der Großvater, sondern der Vater des Jungen. Er war fast dreißig Jahre älter als die Mutter, und dies führte in Kombination mit ihrer erotischen Ausstrahlung zu einigen Erwartungen bei den männlichen Gästen. Maria war eine zielbewusste Frau und wusste diese Erwartungen sehr wohl für ein gut besuchtes Gasthaus zu nützen. Und wenn mal ein Gast zu keck wurde, war es für sie notfalls ein Leichtes, die Beschützerinstinkte anderer Gäste zu mobilisieren.

      Der Junge war im Alter von nur wenigen Wochen an einem ganz seltenen Virus erkrankt, der einige Regionen seines Gehirns beeinträchtigte. Dass er nicht gehen konnte, war eine ganz klar darauf zurückzuführende Folge, die Art seiner geistigen Behinderung beziehungsweise die Frage, ob überhaupt eine solche vorlag, war sehr schwierig zu beantworten. Phasen schwerer Beeinträchtigung wechselten mit solchen völliger geistiger Gesundheit. Aber allein schon dieser abrupte Wechsel der Zustände hatte bereits einige tiefe Spuren in seiner Psyche hinterlassen.

      Als Abendessen hatte es eine wunderbare Tortilla gegeben. Christoph hatte noch eine Flasche Wein bestellt und war bald vom oberflächlichen Geplaudere à la Tipps für das morgige Date zu sehr interessanten Überlegungen und Fragen anlässlich das Scheiterns seiner Ehe übergegangen. Kurz nach Bestellung unserer dritten Flasche Wein verabschiedeten sich die noch übrig gebliebenen sechs oder sieben Einheimischen, und wir waren plötzlich die letzten Gäste. Maria verkündete die Sperrstunde, ließ uns aber die Möglichkeit, beim Schein einiger Kerzen auf der Veranda sitzen zu bleiben und unseren Wein auszutrinken. Ich ließ mir noch den Weg zum Kinderzimmer erklären, Maria verabschiedete sich und wir setzten unsere Unterhaltung fort.

       [8]

      Der Wein hatte natürlich seinen Beitrag dazu geleistet, dass unsere Gespräche langsam intimer wurden, und ich begann sogar, meinen schrecklichsten Traum zu erzählen. Ich war damit sehr vorsichtig geworden, denn seit er mich vor etwa zwei Jahren aus dem Schlaf gerissen hatte, hatte ich ihn einigen Leuten erzählt und es stellte sich immer wieder heraus, dass er auf den ersten Blick recht leicht durschaubar wirkte, sich auch nichts Spektakuläres darin ereignete und niemand nachvollziehen konnte, was verglichen mit anderen Alpträumen so besonders schrecklich daran sein sollte.

      Der Traumsequenz, die mich damals einige Monate lang nicht losgelassen hatte, war ein wüster Tumult vorangegangen. Ich erinnere mich, dass angefangen bei meinen Kindheitsfreunden so ziemlich alle Menschen, die mir in meinem Leben etwas bedeutet hatten, darin vorkamen. Ich erinnere mich an Szenen, die aus einem Abenteuerfilm stammen könnten – bunt gekleidete Räuber, einige mit schwarzen Augenklappen, die auf wilden Pferden durch einen Wald, eher eine an einen Wald grenzende Lichtung, ritten. Darin war ich wohl auch verwickelt, und ich kam schließlich im Hof oder Garten einer Schlossruine an. Ich trug ein aus Beige- und Brauntönen gesprenkeltes Sakko, das ich vor ein paar Jahren sozusagen unter Protest gekauft hatte, als ich zur Hochzeit eines Freundes eingeladen worden war. Darunter trug ich ein weißes Hemd. Ich war gerade angekommen – von diesem Tumult hier praktisch angeschwemmt worden –, stand im Gras, nicht weit von mir entfernt ein halb verfallener unscheinbarer Arkadengang.

      Ohne dass ich das vorher wahrgenommen hätte, hatte sich mir eine Gestalt in einem schwarzen Umhang mit Kapuze genähert, etwas vorgebeugt, das Gesicht in der Kapuze vergraben. Die Gestalt öffnete den Spalt des Umhangs etwas weiter, um Bewegungsraum für die Hände zu bekommen, und als sie den Kopf hob und die Kapuze etwas zurücksank, erkannte ich die Frau, die ich gerne geliebt hätte, unter dem Umhang war nun auch das Outfit zu sehen, das sie bei der Party trug, bei der ich sie zuletzt getroffen hatte. In ihrer rechten Hand hielt sie eine Pistole, sie zielte aus nur wenigen Metern Entfernung auf meine Brust und drückte ab.

      Ich spürte im Traum keinerlei Schmerz. Ich wusste, dass sie in mein Herz geschossen hatte und ohne hinunter zu sehen wusste ich auch, dass sich ein dünnes Rinnsal aus Blut im weißen Hemd abzuzeichnen begann. Ich griff mit der linken Hand nach einem weißen Stofftaschentuch, das ich in der Sakkotasche hatte, und wollte das Blut abwischen. Aber mitten in der Bewegung geschah das Schreckliche, das mich lange nicht mehr losließ: Plötzlich schoss mir der Gedanke durch den Kopf: Wozu soll ich das noch machen? In wenigen Minuten bin ich sowieso tot.

      Diese plötzliche Erkenntnis, dass man nichts mehr tun konnte. Es war nicht die Eingebung, die letzten Minuten meines Lebens nicht mit solchem Blödsinn zu verschwenden. Ich tat oder dachte auch nichts anderes. Und ich war völlig allein. Ich weiß auch nicht, was die Frau, die mich gerade getötet hatte, jetzt machte; sie war einfach aus meiner Wahrnehmung verschwunden.

      Es war großartig, dass Christoph sich nicht auch einfach an den Banalitäten festfraß, dass mich eine Frau zurückgewiesen hatte und ich das eben schmerzhaft empfand. Das waren nicht nur Schmerzen; die Erinnerung an diese Traumszene überfiel mich oft plötzlich während des Tages und ich erlebte es immer wieder als Todeserfahrung. Die Erzählung löste etwas noch Unklares in Christoph aus. Er sagte, er werde darüber weiter nachdenken und dann etwas zu dem Traum sagen. Wir versanken in nachdenkliches Schweigen, unsere Blicke verloren sich im Nachthimmel, der für niemanden auf diesem Planeten mehr derselbe war wie noch ein Jahr zuvor, und nach einer Weile kamen wir überein, dass es das Beste sei, jetzt schlafen zu gehen und uns morgen gegen halb zehn zum Frühstück zu treffen.

       [9]

      Wir gingen ins Haus und schoben dann wie mit Maria vereinbart innen den Riegel der Tür zu. Christoph ertastete den Lichtschalter – der Gang wurde durch eine Matte Lampe fahl erleuchtet. Christophs Zimmer war am Ende des Ganges, das Kinderzimmer, in dem ich schlafen sollte, lag laut Marias Beschreibung im ersten Stock, von den Stiegen kommend geradeaus die dritte Tür rechts. Wir wünschten uns eine gute Nacht, Christoph verschwand in seinem Zimmer und ich stieg die Treppe hinauf.

      Im ersten Stock war der Gang nicht beleuchtet. Ich hatte den Lichtschalter gefunden, aber vermutlich war die Lampe kaputt. Ich hatte unten das Licht ausgeschaltet und mich im Dunkel über die Stiegen getastet. Der Gang hier war noch ganz schwach durch das Mondlicht erleuchtet, das durch die Balkontür am anderen Ende hereinfiel. Das Kinderzimmer war leicht zu finden, wie von Maria beschrieben, hängte neben der Tür noch ein kleines Holzschild mit einer wahrscheinlich grünen Raupe.

      Der Raum lag in völliger Dunkelheit. Er schien auch kein Fenster zu haben oder dieses war durch einen Fensterladen oder eine Jalousie praktisch lichtundurchlässig verschlossen. Ich hatte an der Wand neben der Tür keinen Lichtschalter ertasten können und musste einen Moment warten, bis sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Noch konnte ich nichts sehen, aber plötzlich war sehr deutlich etwas zu hören – ein leises Atmen.

      Es gab keinen Grund, mich in Gefahr zu wähnen, aber ich wurde ein wenig nervös und versuchte, doch gleich einen Lichtschalter zu finden. Ich machte einen Schritt von der Tür weg – nichts zu finden. Das leise Atmen ging weiter,