Ich schnappte mir den Topf, der im Flur bereit stand und ging damit zur Haustür. Als ich sie geöffnet hatte, kostete es mich große Mühe, ihn nicht fallen zu lassen.
Sie stand vor mir. Christine. Meine ehemalige Frau, die offiziell als verstorben galt und nach ihrer „Gehirnwäsche“ durch die Bakarer mit einer anderen Identität in Marburg lebte und sich nicht mehr, wie Kando, der Bakarer, versichert hatte, an ihr früheres Leben erinnern konnte.
Das schien so jetzt nicht mehr zu stimmen. Christine sah mich an und auf ihrem Gesicht erschien ein amüsiertes Grinsen. „Hallo Werner, gut dass Du schon da bist, ich muss nämlich den Haustürschlüssel vergessen haben. Was hast Du eigentlich mit dem Topf vor? Und warum guckst Du so verdattert?“ Sie gab mir einen kurzen Kuss und ging an mir vorbei ins Haus. Im Flur hatte Angelika einige Bilder aufgehängt, die sie bei ihrem Einzug mitgebracht hatte. Christine blieb davor stehen, offensichtlich irritiert. „Hast Du die Bilder heute alle aufgehängt? Die meisten sind ja ganz hübsch, aber seit wann machst Du so etwas klammheimlich? Oder sollte das eine Überraschung sein?“
Ich starrte sie immer noch an, unfähig auch nur einen Ton heraus zu bringen. Mit Christines Erscheinen hatte ich nie gerechnet, dazu war mein Vertrauen in die Fähigkeiten der Bakarer zu groß gewesen. Christine interpretierte meine konfuse Verhalten anders. „Mensch Werner, Du siehst ja völlig überarbeitet aus. Die Bilder hier alle so perfekt aufzuhängen muss ganz schön anstrengend gewesen sein. Seit wann kannst Du eigentlich schon so früh mit der Arbeit aufhören?“ Sie schenkte mir ein warmes Lächeln, wie sie es früher oft getan hatte, bevor sie so plötzlich und brutal aus meinem Leben verschwunden war. „So einen Bärenhunger wie heute hatte ich schon lange nicht mehr. Komm her, ich mache uns etwas zu Essen.“ Sie öffnete die Tür zur Küche. Gleich darauf sah sie mich fragend an. Angelika und ich hatten in der Küche vor einiger Zeit verschiedene Änderungen vorgenommen. Daher sah die Küche ganz anders aus als zu dem Zeitpunkt vor knapp zwei Jahren, als Christine verschwunden war. Sie bemerkte die Veränderungen sofort. „Das gibt es doch gar nicht. Du hast ja hier auch….“. Sie brach ab, als sie Angelika und das Kind erblickte. „Oh, wir haben Gäste. Entschuldigen Sie bitte meinen Auftritt“, sagte sie zu Angelika gewandt und reichte ihr die Hand. „Ich bin Christine Caldenberg, Werners Mann.“ Erwartungsvoll blickte sie Angelika an. Ich war ihr in Erwartung der kommenden Katastrophe gefolgt und blickte nun über ihre Schulter auf die Szene in der Küche. Wie in Trance stellte ich fest, dass ich in der einen Hand noch immer den Topf mit dem Schmetterlingsflieder hielt. Ich konnte die Überraschung in Angelikas Augen erkennen, gleichzeitig wurde mir klar, dass auch sie genau wusste, wer da jetzt mit ausgestreckter Hand vor ihr stand.
Ihre Irritation währte nur kurz. Sie verlagerte das Kind von dem rechten in den linken Arm, erhob sich und ergriff Christines Hand. Sie blickte ihr fest in die Augen. „Guten Tag, ich bin Angelika Caldenberg.“ Christines Irritation nahm zu. Sie blickte zwischen uns beiden hin und her. „Ist das eine Verwandte von Dir, die Du mir bisher unterschlagen hast?“ fragte sie mich. Mein Unbehagen wuchs immer mehr, während meine Gedanken mit einem derartigen Tempo Karussell fuhren, dass sie verwischten und nicht mehr greifbar waren. Mit einer energischen Willensanstrengung versuchte ich, das Karussell anzuhalten. Und tatsächlich kam mir plötzlich eine Idee. Ich wandte mich an Christine. „Du, Christine, sag mal, was für ein Datum haben wir heute?“ – „Willst Du mich auf den Arm nehmen? Das wirst Du doch wohl selber wissen! Deine Ablenkungsmanöver waren auch schon einmal besser.“ Dabei warf sie mir einen ihrer verführerischen Blicke zu, die ich immer besonders gemocht hatte. Auch dieses Mal erschauerte ich wieder innerlich. Aber das war jetzt wirklich nicht der richtige Moment, dieses Gefühl auszukosten, zumal sich in diesem Raum zwei Frauen befanden, die beide Anspruch auf mich erhoben und nach Lage der Dinge auch eigentlich hatten. „Bitte, es ist wichtig. Würdest Du meine Frage beantworten?“ – „Von mir aus. Dann werde ich Deinem maroden Gedächtnis auf die Sprünge helfen. Wir haben heute den 10. Juli.“ Ihre Antwort traf mich wie ein Peitschenhieb. Am 10. Juli 2013, also vor knapp zwei Jahren, war Christine von einem Autofahrer tot im Wald aufgefunden worden. Dass dies nicht Christine, sondern lediglich eine perfekte, tote Nachahmung ihres Körpers gewesen war, hatte ich erst später erfahren. Außer Angelika und mir wusste auf der Erde niemand davon. „Welches Jahr?“ hörte ich mich wie aus weiter Ferne stammeln. „Werner, spinnst Du jetzt endgültig? Was soll bloß unser Gast denken?“ – „Bitte, welches Jahr haben wir?“ – „Ist Dir nicht gut?“ Der Schweiß, der mir mittlerweile auf die Stirn getreten war, ließ eine solche Frage durchaus logisch erscheinen. Christine blickte mich fragend an. Dann sagte sie: „2013 natürlich. Bist Du jetzt zufrieden?“
Angelika griff mit ihrem freien Arm nach der Zeitung, die auf dem Küchentisch lag und beförderte sie mit einem Schwung in Richtung Christine. „Sehen Sie sich doch bitte einmal das Datum auf der Zeitung an“, sagte sie zu ihr. Christine verstand nun überhaupt nichts mehr. Sie blickte erst zu Angelika und dann zu mir. „Kann es sein, dass ihr beide ein Problem habt, was ich bis jetzt noch nicht begriffen habe?“ – „Ich glaube, wir alle haben im Moment ein Problem. Sehen Sie sich die Zeitung an und Sie wissen, was ich meine“, sagte Angelika mit ruhiger Stimme. Achselzuckend nahm Christine die Zeitung in die Hand und überflog die Schlagzeilen. Dann hielt sie inne. „Das ist merkwürdig. Da muss jemand ziemlich gepennt haben. Das Datum oben im Kopf und unten im Wetterbericht sowie bei den Börsennachrichten ist immer der 19. Mai 2015. Das kommt davon, wenn Unternehmen glauben, unendlich viel Personal einsparen zu können.“ Ich sah sie an. „Christine, das Datum stimmt. Heute ist der 19. Mai 2015. Du bist seit dem 10.Juli 2013 zum ersten Mal wieder in diesem Haus.“
Aus ihrem Gesicht wich die Farbe. Sie zog einen Stuhl heran und setzte sich. Für eine ganze Weile war es völlig ruhig, niemand räusperte sich oder sprach ein Wort. Christine brach schließlich das Schweigen. Ihre Stimme hatte einen leichten, aber deutlich wahrnehmbaren schrillen Unterton, den ich bis dahin noch nie bei ihr bemerkt hatte. „Das ganze scheint mir irgendeine merkwürdige Inszenierung zu sein, deren Sinn ich offensichtlich noch nicht ganz begriffen habe. Als erstes möchte ich jetzt wissen“, sie streckte energisch die Hand aus um mit dem ausgestreckten Zeigefinger auf Angelika zu weisen, „wer ist diese Frau und was hat sie hier zu suchen? Wieso heißt sie auch Caldenberg? Was ist das für ein Kind, das sie im Arm hat?“ Ich versuchte mit meinem Blick ihre Augen zu fixieren. Sie ließ es nicht zu. Auf ihrem Stuhl kauernd machte sie nun einen verwirrten und auch gleichzeitig verlorenen Eindruck. Am liebsten hätte ich sie in den Arm genommen und getröstet, aber das hätte uns in diesem Moment keinen Schritt weiter gebracht. Als ich jetzt zu sprechen begann, wählte ich meine Worte mit Sorgfalt und Bedacht. „Bevor ich Deine Fragen beantworte, möchte ich Dir, soweit ich davon Kenntnis habe, erzählen was in den letzten zweiundzwanzig Monaten passiert ist.“ Ich versucht noch einmal Augenkontakt mit ihr aufzunehmen. Dieses Mal hatte ich Erfolg. „Am 10. Juli 2013 fand ein Autofahrer etwas abseits der Landstraße Richtung Warburg einen toten Körper. Er sah aus wie Du und war auch so bekleidet. Dein Auto stand mit laufendem Motor und geöffneter Fahrertür auf der Straße. Niemand, auch ich nicht, zweifelte daran, dass es sich bei diesem toten Körper um Dich, Christine Caldenberg, handelte. Da keine offensichtliche Todesursache erkennbar war, wurde sogar eine Autopsie durchgeführt. Das Ergebnis lautete auf Tod durch plötzliches Herzversagen. Der Körper wurde schließlich als Christine Caldenberg begraben und ich, Deine Eltern und Andere waren traurig und verzweifelt. Später bekam ich heraus, dass Dein vermeintlicher Tod von Außerirdischen, die sich Bakarer nennen, inszeniert wurde. Sie manipulierten Dein Gedächtnis indem Sie die Erinnerung an Dein bisheriges Leben löschten und Dir einen neuen Lebenslauf „einprogrammierten“. Seitdem hast Du mit einem anderen Mann als Ehemann in Marburg an der Lahn gelebt. Ich bin einmal dort gewesen und habe mit Dir gesprochen. Du hast mich nicht erkannt.“ Während meiner Schilderungen hatte ihr Gesicht eine zunehmend rote Farbe angenommen und als sie jetzt sprach, konnte ich mühsam unterdrückte Wut in ihrer Stimme wahrnehmen. „Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie einen solchen Schwachsinn gehört. Und am allerwenigsten hätte ich das von meinem Mann erwartet. Was soll der Mist?“ Ihr Blick fiel auf Angelika. Was jetzt kam, war mir klar. „Willst Du mich in die Psychiatrie einweisen lassen, damit Du bei dieser Schlampe freie Bahn hast? Wo hast Du die bloß aufgegabelt? Hast Du vielleicht