Die Felsenkonstruktionen gingen Masut nicht mehr aus dem Kopf. Sie übten eine magische Anziehungskraft auf ihn aus, die er sich nicht erklären konnte. Doch er fand nicht die Zeit, das Völkerschau-Gelände zu verlassen, um sich die Felsen anzusehen.
Sie lebten in diesem nachgestellten Dorf am Fuße der Pyramiden und eines großen Tempels, der sich im Lande der Nubier befindet. Ein gewisser Ramses sollte diesen erbaut haben. Angeblich sollten diese Bauten wirklichkeitsgetreu nachgebaut worden sein, nur etwas kleiner und nicht so imposant. Die Besucher jedenfalls schienen sich wie in Ägypten zu fühlen. Masut konnte darüber nur lachen. Bloß weil sie ägyptische Bauten sahen und sie an dem Dorfleben für einen kurzen Augenblick teilnehmen konnten, befanden sie sich in Ägypten? Was wussten diese Menschen schon von ihnen? Von ihrem wahren Leben? Von ihren Problemen? Darüber erfuhren sie nichts, doch es war auch gar nicht gewollt.
Ein kurzer Moment, um in eine fremde exotische Welt einzutauchen. Eine Attraktion, die sich jeder leisten konnte. Man musste nicht erst eine teure und anstrengende Reise in ferne Welten antreten, um so etwas zu sehen, wie man es hier sah. Eine Reise in ferne Welten, direkt vor der Haustür. Alle paar Monate etwas Neues. Es durfte nicht langweilen. Deshalb gab es zweimal am Tag ein Spektakel für die Zuschauer: Überfall auf das Beduinendorf.
Was sollte aber nun mit Johann geschehen? Sollte er weiter den Ägypter spielen oder als er selbst in der Gruppe bleiben?
"Wo ist dieser Wasserträger?", rief der Glasbläser ärgerlich und trat gegen den leeren Wassereimer.
Masut sah sich schnell in der Hütte um und blickte nach draußen. Johann war nicht zu sehen. Wortlos nahm er den Eimer, verließ die Werkstatt und suchte den Brunnen auf. Während er den Eimer voll Wasser füllte, nahm er aus seinem Augenwinkel eine Bewegung wahr. Als er aufsah, ließ er vor Schreck den Eimer fallen. Das Wasser ergoss sich auf dem Boden und versickerte langsam in der Erde bis es eine nasse Fläche hinterließ.
"Johann, was tust du?"
Vor Masut stand nicht der als Ägypter verkleidete Johann, sondern der blonde Junge, den er auf dem Schiff kennen gelernt hatte.
"Ich will mir die Tiere ansehen. Immer nur Wasser schleppen und sich in Acht nehmen, nicht von den anderen denunziert zu werden, weil sie entdeckt haben, dass ich mich eingeschmuggelt habe, will ich nicht."
"Denunzieren? Was ist das?" Masut verstand nicht, was sein Freund ihm sagen wollte. Nur dass dieser sich vor der Arbeit drückte, war ihm klar.
"Ich meinte, dass deine Leute entdecken, dass ich keiner von ihnen bin, weshalb sie mich verraten."
"So wie du rumläufst, werden sie das tun. Denk nach!"
"Lass mich!", sagte Johann beleidigt und lief los, bevor der junge Ägypter etwas erwidern konnte. Kopfschüttelnd sah Masut ihm nach. Er hatte kein gutes Gefühl bei dem Ausflug, nichtsahnend, dass er und Johann beobachtet worden waren.
12
Staunend stand Johann vor dem Löwen-Gehege. Faul lagen die Raubkatzen in ihrem Gehege und dösten, nur durch einen Wassergraben getrennt von den Besuchern. Wie war es möglich, dass hier die Löwen nicht hinter Gitter waren, wie es im Zoologischen Garten war?
Der Zoologische, wie er von den Hamburgern genannt wurde, befand sich in der Nähe des Dammtor-Bahnhofs. Der bekannteste Direktor des zoologischen Tiergartens war Alfred Brehm gewesen, der nach wenigen Jahren den Posten wegen Unstimmigkeiten abgegeben hatte. Obwohl dieser Zoo länger bestand als der Tierpark vor den Toren Hamburgs, musste er mit geringeren Besucherzahlen vorlieb nehmen. Vielleicht lag es an den revolutionären Gehegebauten, die hier in Hagenbecks Tierpark zu betrachten waren. Nicht Gitter trennten die Besucher von den Tieren, sondern Gräben. Sicherlich waren auch die Völkerschauen ein weiterer Grund, weshalb die Menschen kamen.
"Gefallen dir die Löwen?", fragte jemand in seinem Rücken und legte Johann eine Hand auf die Schulter.
Der blonde Junge zuckte zusammen, erstarrte und hielt die Luft an.
Ich bin entdeckt, ging es ihm durch den Kopf.
"So sprachlos, junger Herr?"
Neben Johann tauchte ein um einige Jahre älterer junger Mann auf, der im Tierpark zu arbeiten schien, er trug die typische grüne Kleidung der Tierpfleger.
"Wollte nur gucken", erwiderte Johann schnell. Seine Stimme zitterte und seine Zunge verhaspelte sich bei den Worten. "Eintrittskarte hab' ich verloren."
"Danach habe ich dich gar nicht gefragt." Der junge Mann musterte Johann. "Hast du dich etwa rein geschmuggelt?"
Mit schreckgeweiteten Augen sah er den Tierpfleger an. Durch eine unbedachte Aussage hatte er sich selbst verraten. Alles würde auffliegen. Er müsste zurück aufs Schiff oder schlimmer noch, zurück zu seiner ungeliebten Tante. Hätte er nur geschwiegen! Bevor er weiter nachdachte, rannte er los, so schnell er konnte. Weit kam er nicht. Als er um die Ecke bog, stieß er mit einem Besucher zusammen und fiel hin.
"Pass auf, wo du hinläufst!", hörte er den älteren Herrn sagen.
Bevor er aufstehen konnte, wurde er unsanft am Kragen gepackt.
"So schnell entkommst du mir nicht, Freundchen!"
"Es ist doch nichts geschehen. Er hat nur nicht aufgepasst, wohin er gelaufen ist." Die eben noch erregte Stimme des männlichen Besuchers klang nun sanfter und besorgt.
"Darum geht es nicht."
Johann wurde am Kragen hochgezogen bis er auf seinen Beinen stand. Dann spürte er einen harten Griff um sein Handgelenk, als würde Eisen es umfassen.
"Hat er was angestellt?"
"Nein, mein Bruder kann nur nicht gehorchen. Und nun gehen Sie weiter. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Aufenthalt in Hagenbecks Tierpark."
Im Gesicht des Besuchers, mit dem Johann zusammengestoßen war, stieg die Zornesröte hoch. Ohne ein Wort ging er weiter.
Verdutzt sah Johann den Tierpfleger an. Hatte dieser gerade gelogen und ihn als seinen Bruder ausgegeben?
"Bruder? Wieso haben Sie das gesagt?"
"Mir ist auf die Schnelle nichts Besseres eingefallen."
"Wie wäre es mit der Wahrheit gewesen?"
Überraschte blickte der junge Mann Johann an. Mit dieser Frage hatte er nun gar nicht gerechnet. Aber ihn hatten schon ganz andere Dinge in letzter Zeit verwundert.
"Manchmal ist es besser, die Wahrheit nicht auszusprechen. Doch was ist die Wahrheit? Du machst blau und bleibst der Schule fern? Du hast dich hier rein geschmuggelt? Oder du versteckst dich bei den Ägyptern?" Der Tierpfleger sah Johann an, der seinem Blick auswich und schnell den Kopf senkte. "Was ist denn nun die Wahrheit?"
Das Kinn des blonden Jungen wurde angehoben, dass er seinem Gegenüber direkt ins Gesicht sehen musste.
"Was wollt Ihr von mir?"
"Erst einmal deinen Namen."
Johann wusste nicht, was er tun sollte. Seinen wahren Namen nennen? Lügen und hoffen, dass der Tierpfleger von ihm ablassen und ihn gehen lassen würde? Er konnte den jungen Mann nur schwer einschätzen.
Er schalt sich selbst einen Narren. Wäre er nur in dem Beduinendorf geblieben. Hätte er seiner Neugier nur nie nachgegeben. Sein Freund hatte recht gehabt, als er ihn zurückhalten wollte. Doch er wollte nicht mehr länger einen Ägypter spielen, gefangen sein in diesem Schaudorf.
Er wollte Masut nicht enttäuschen, deshalb spielte er das Versteckspiel weiter, doch er wollte nicht mehr. Ewig aufpassen, dass er sich nicht verriete, dass er Gesicht