Die Frage war Tom sichtlich unangenehm.
„Ich meine...“
„Was? Hat er dir etwa verboten, mir Informationen zu geben?“
„Nun, ich meine“, Tom zögerte, unsicher, was er sagen sollte, „he, Mick hat, ich meine, Mick hat gar nicht damit gerechnet, dass du hier aufkreuzt, er hat nur allgemein gesagt, dass...“ Er stockte.
„Das was?“
„Na ja, dass du auch Bestandteil des Falles bist.“ Tom machte einen unglücklichen Eindruck. „Ich weiß, das ist totaler Bullshit, aber du kennst Lanski, seinen Ton.“
Shane zählte im Kopf bis fünf. Verdächtigte Mick ihn denn tatsächlich, nur weil er überlebt hatte?
„Hör’ zu“, sagte Tom und machte eine beschwichtigende Handbewegung, „niemand mag Mick besonders. Das weiß er und diesen Frust muss er rauslassen. Das ist alles. Und deshalb ist er gegen dich.“
Auch wenn Tom sicher Recht hatte, war Shane doch wütend. Er atmete tief aus und sagte:
„Danke, Tom. Stört’s dich, wenn ich hier bleibe?“
Tom entspannte sich augenblicklich.
„Du kannst so lang hier sitzen, wie du willst. Du weißt ja, wo der Kaffee ist.“
„Danke“, brummte Shane, zog den ersten Aktenordner heran und schlug ihn auf.
Mehr als sechzig Personen waren vernommen worden, alles Bewohner der Gordon Street. Er blätterte zu den Protokollen der Hausbewohner von Nr. 117. Er verglich die Namen mit denen aus seinem Notizbuch. Stafford, Anderson, das Anwaltsbüro Dr. P.M. Fleer, und das Büro Artconcept.
Mr. und Mrs. Stafford waren am Samstag zu Hause gewesen, die Schüsse überraschten sie im Schlaf, sie waren zum Fenster geeilt, und sahen die Toten dort liegen. Dann verständigten sie die Polizei. Ihnen war kein flüchtender Mann aufgefallen.
Trooper van Leer, ein alleinlebender fünfunddreißigjähriger Bankangestellter war nicht zu Hause. Er hatte das Wochenende bei seiner Freundin in einem anderen Brisbaner Stadtteil verbracht. Der Anwalt Dr. Fleer unterhielt in dem Haus nur sein Büro. Er war zu dieser Zeit mit seiner Frau und einem befreundeten Ehepaar zum Essen gewesen – in einem Restaurant, das zwanzig Minuten Fahrtzeit vom Tatort entfernt lag. Auch das Büro der Firma Artconcept war am Samstagnacht nicht besetzt. Inhaber des Büros, das sich mit Kunstvermittlung beschäftigte, war ein gewisser Tim Wilcox, Rechtsanwalt.
Keiner der anderen Anwohner in der Straße hatte etwas von der Schießerei gesehen, die nur Sekunden gedauert hatte. Und keiner hatte jemanden weglaufen sehen. Vielleicht war der Mörder ja wirklich durch die Toreinfahrten zwischen den Häusern entkommen?
Shane klappte den Ordner zu und zog den nächsten heran. Darren Martin lächelte ihn von einem Passbild an. Darren Martin, das vierte Opfer. Er wurde vor einunddreißig Jahren als Sohn der australischen Staatsbürger Susan und Carl Martin in Manila auf den Philippinen geboren. Carl Martin arbeitete dort als Angestellter einer australischen Textilfirma. Vor zehn Jahren kamen Darren Martins Eltern in Manila bei einem Anschlag ums Leben. Darren kehrte vor zwei Jahren nach Australien zurück und arbeitete seit einem Jahr im Catering Service „Nice & Cool“ an der Sunshine Coast. Shane notierte sich die wichtigsten Punkte und blätterte weiter. Den Bericht der Gerichtsmedizin überflog er, er wollte nicht wissen, wie die Kugeln die Körper zerfetzt hatten. Als er auf die Uhr sah, stellte er fest, dass fast zwei Stunden vergangen waren.
„Hast du alles gefunden?“, fragte Tom, der gerade hereinkam. Shane hatte gar nicht bemerkt, wie er den Raum verlassen hatte.
„Fast alles. Danke.“ Er erhob sich.
Tom wollte ihm die Krücken reichen. „Geht schon!“, sagte Shane, „ich muss mich mal langsam dran gewöhnen, es allein zu schaffen.“
Shane streckte gerade die Hand zum Türgriff aus, als Tom ihn zurückhielt. Tom wirkte nervös.
„Hast du schon mal daran gedacht, dass der Mörder dich suchen könnte?“
Shane spürte die Walther in der Halterung. Tom zog eine Schublade auf und legte Shanes Dienstwaffe, die Glock, auf den Tisch.
„Die Ballistik hat sie zurückgegeben. Du bist zwar krankgeschrieben, aber...“
Shane humpelte zurück und steckte die Waffe unter die Jacke, seitlich in den Hosenbund.
„Danke.“
„Warum fährst du nicht weg, Shane?“, sagte Tom mit Besorgnis in der Stimme. „Lass uns die Sache erledigen. Wir werden den Kerl kriegen.“
„Ja, vielleicht hast du recht. Ich werde es mir überlegen. Wiedersehen Tom.“
„Noch eine Frage, Shane.“
Tom kratzte sich am Kopf. „Sag’ mal – was war das eigentlich für eine Geschichte zwischen dir und Mick Lanski?“
„Tom, ein andermal.“ Shane ging hinaus, die Tür fiel langsam und leise hinter ihm zu. An Lanski wollte er heute nicht mehr denken.
Im Aufzug beschloss er, Ann anzurufen und sie nach einem Trev oder Trevor zu fragen. In der Eingangshalle steuerte er zu einem Stuhl und rief Ann im Krankenhaus an. Es ginge ihm schlechter heute, sagte sie mit gehetzter Stimme. „Die Ärzte behaupteten, das sei normal, es könne morgen wieder ganz anders sein.“
„Sie haben Erfahrung, Ann“, sagte er, „Jack ist kleiner tapferer Kerl.“
„Ja“, sagte sie schluchzend, „ja, das hat er von seinem Vater.“
Schließlich fragte Shane, ob sie einen Harry kenne, er könnte ein Kollege oder ein Bekannter Jacks gewesen sein.
„Nein, tut mir leid, Shane, das hat mich Mick Lanski auch schon tausend mal gefragt, aber ich kenne keinen. Und im Augenblick kann ich eigentlich an gar nichts denken und mich an nichts erinnern. Ich versuche nur irgendwie den Tag zu überstehen, Iris zu versorgen und dem Kleinen meine Kraft zu geben, damit er überlebt. Er ist das Letzte, das mir von Jack geblieben ist. Ich weiß nicht, ob ich es ertragen könnte, wenn...“ Dann brach sie ab.
„Soll ich kommen?“, fragte er.
„Nein - aber danke, Shane.“
„Ruf’ mich an, Ann, egal um welche Zeit.“
„Okay.“
Er wollte auflegen, doch sie sagte: „Brauchst du Jacks Lebenslauf? Vielleicht steht da etwas drin, was dich weiterbringt.“
„Ja, wenn du dazu kommst, aber es ist nicht so wichtig“, log er. Er brachte es nicht über sich, sie mit einer weiteren Aufgabe zu belasten. Als er auflegte, sah er auf dem Parkplatz vor dem Pub Jack vor sich, der in Toms Auto hätte einsteigen können.
„Wie geht’s Ihnen, Detective?“
Shane drehte sich um. Der Pförtner mit dem pechschwarzen Haar und dem gleichfarbigen Schnauzer, winkte ihm von der Empfangstheke aus zu. Shane hob und senkte die Schultern, was so viel hieß wie, es geht irgendwie, Sie sehen ja.
„Mein Gott“, rief der Pförtner herüber und schüttelte dabei den Kopf, „wir können das alle noch nicht fassen. Jeden Tag kamen die doch bei mir vorbei! Hoffentlich schnappt ihr diesen Kerl bald!“
Der Pförtner wünschte ihm noch gute Besserung, dann wurde er ans Telefon gerufen. Shane humpelte hinaus in die schwüler gewordene und abgasgeschwängerte Hitze. Er winkte dem ersten heranfahrenden Taxi und ließ sich, jetzt am Ende seiner Kräfte, nach Hause fahren.
Als sie die Brücke am Breakfast Creek überquert hatten, konnte er auf den Fluss sehen, den das warme Licht des Spätnachmittags tief blau leuchten ließ. Ein blauweißes Wassertaxi, die City Cat, durchschnitt mit ihrem doppelten Bug die seit dem Vormittag noch rauer gewordene Wasseroberfläche. Vier kleine Segelboote kreuzten hintereinander gegen den Wind. Er konnte sehen, wie die Segel ins Flattern gerieten, wenn die Wende oder Halse