Detective Tamara Thompson meldete sich aus Adelaide, wo sie ihre Eltern besuchte. Hätte sie nur zwei Tage später Urlaub genommen, wäre sie auch auf Al Marlowes Party gewesen und vielleicht wäre sie mit ihnen durch die nächtlichen Straßen gegangen. Shane war sicher, dass ihr genau das durch den Kopf gegangen war.
„Kommst du zurecht?“, fragte sie schließlich mit belegter Stimme.
„So einigermaßen.“
„Aha. Und wer kümmert sich um dich?“
„Ich.“
„Und wo ist Eliza?“
Sie rührte an seinem wunden Punkt.
„Sie ist mit ihrer neuen Flamme auf den Fidschis.“ Er sagte es bitterer als beabsichtigt.. „Wie ist es in Adelaide?“, lenkte er ab.
„Langweilig.“
„Ich fehle dir, oder?“, versuchte er zu spaßen.
„Nein. So schlecht kann es dir nicht gehen, du bist immer noch ein Chauvi.“
Sie zögerte einen Moment. „Weiß man schon was über den Täter?“
„Der einzige Zeuge hat ihn nicht gesehen.“
„Der einzige Zeuge?“
„Ja, ich.“
„Sie werden ihn finden, Shane, bestimmt.“
„Ja.“
„Ach, Shane?“
„Ja?“
„Du hast doch nicht vor, auf eigene Faust...?“
„Wie kommst du darauf? Du kennst mich doch.“
„Eben drum.“
„Du hast mich in meinem augenblicklichen Zustand noch nicht gesehen, Tamara.“
„Shane?“
„Ja?“
„Ist dir klar, dass du in Gefahr sein könntest? Du bist der einzige Zeuge.“
Als er auflegte, fragte er sich, was mit Tamara los war. Sie redete doch sonst nicht so mit ihm. Stand sie unter Schock, weil sie auch bei den Toten hätte sein können?
Er humpelte in die Küche, um sich einen Kaffee zu machen. Während der Kaffee durchlief ging er ins Schlafzimmer, zog die Nachttischschublade auf, nahm die Walther, seine Ersatzwaffe, heraus. Seine Hand zuckte als sie das kalte Metall berührte. Er hatte sich nicht im Griff. Die Bilder der schrecklichen Nacht drängten sich auf, er konnte nichts dagegen tun. Er sah sie, auch wenn er die Augen schloss. Er hörte das Explodieren der Schüsse, er sah die toten Körper, Jacks Jacke, auf der liegend er wieder zu sich gekommen war. Er roch Jacks Rasierwasser. Nichts würde wieder normal sein. Shane schwitzte. Durchatmen, befahl er sich. Die Nerven behalten. Das Metall wurde warm und feucht. Er ließ das Magazin herausgleiten, kontrollierte es, schob es wieder zurück. Das Klacken dabei kannte er so gut, aber noch nie hatte ihn dabei ein Schauer überfallen. Schweiß tropfte ihm in die Augen und brannte. Jetzt nicht schlapp machen, nicht nachdenken. Er kleidete sich mühsam an, legte sein Schulterhalfter an, und steckte die Waffe hinein. Dann zog er. Er zog und zielte. Steckte die Waffe wieder zurück. Entspannte sich. Und zog und zielte. Das wieder holte er so lang, bis das Zittern fast verschwunden war. Dann zog er ein leichtes Jackett darüber und bestellte ein Taxi. Er musste zum Tatort, auch wenn er sich davor fürchtete.
Kapitel 11
Der Taxifahrer, ein gedrungener Mann mit stark behaarten Beinen hielt ihm die Beifahrertür auf, während er sich behutsam, als wäre sein ganzer Körper ein rohes Ei, das beim geringsten Widerstand platzen und auslaufen könnte, auf dem Beifahrersitz niederließ.
„Geben Sie die Dinger her“, sagte der Taxifahrer und zeigte auf die Krücken.
Erleichtert gab Shane sie ihm, er hatte vorher nie am eigenen Leib erfahren, was es bedeutete, im Alltag auf Hilfe angewiesen zu sein. Der Fahrer verstaute sie im Kofferraum.
„Wohin soll’s gehen?“
„Gordon Street.“
Der Fahrer warf Shane einen Blick zu. „Dort war letzte Woche eine Schießerei. Haben Sie davon gehört?“
„Nein.“ Shane wollte nicht wie eine Sensation auf dem Jahrmarkt angestarrt, bewundert oder bedauert werden. Seine knappe Antwort ermutigte den Taxifahrer nicht zu weiteren Fragen und er drehte das Radio auf und fuhr schweigend los. Der Sprecher kündigte für den Nachmittag Sturm und Gewitter an. Die ersten Vorzeichen konnte Shane schon am Himmel sehen. Weiße Wolkenberge warteten am Horizont, und der Wind hatte die Oberfläche des Flusses, an dem sie eben entlang fuhren, aufgeraut, dass sie aussah wie ein Waschbrett.
Als der Wagen nach einer viertel Stunde an der Ampel nach links in die Gordon Street einbog, verlangsamte der Fahrer das Tempo. Obwohl im Tageslicht alles anders aussah, konnte sich Shane doch erinnern, wie sie an dieser Ecke in die Straße gingen. Die Stelle, an der es geschehen war, lag höchstens hundert Meter weiter.
„Halten Sie hier.“
„Hier?“ Der Fahrer warf ihm einen skeptischen Blick zu und fuhr an den Bordstein. Shane zahlte und nahm seine Krücken in Empfang, der Wagen drehte und bog bei der schon auf Rot umgesprungenen Ampel ab. Der Taxifahrer hatte es anscheinend sehr eilig, wegzukommen.
Shane sah die Straße hinauf. Wie anders hatte er den Anblick in seinem Gedächtnis gespeichert. Jedes Mal, wenn er sich den Abend in Erinnerung rief, war die Straße dunkler und enger geworden. Die Fassaden waren allesamt grau oder dunkelbraun, schroff und hoch, so hoch, dass sie bedrohlich wankten, zusammen zu stürzen und die Straße unter sich zu begraben drohten. Doch nichts davon entsprach dem Bild, das sich ihm jetzt bot. Die Wolken waren noch in weiter Ferne, die Sonne schien von einem blauen Himmel und ließ die Häuser der einen Straßenseite in freundlichen Farben leuchten. Die andere Seite war in kühlen Schatten getaucht, der jedoch keineswegs beängstigend wirkte. So heruntergekommen, wie er geglaubt hatte, waren die Häuser gar nicht. Manche hätten einen neuen Anstrich vertragen, aber sie machten nicht den Eindruck, vernachlässigt oder baufällig zu sein. Die meisten Gebäude waren dreigeschossige Flachbauten, Büro- und Wohnhäuser, vor denen Häuser parkten.
Shane humpelte langsam, auf seinen Krücken gestützt, voran. Neben einer Haustür waren untereinander drei Schilder angebracht, auf denen er die Namen von las. Ein Import-Export-Büro, ein Schreibbüro, eine Psychotherapie-Praxis. Am nächsten Haus hing das Schild eines Arztes für Chiropraktik, auf dem die Sprechzeiten genannt wurden. Dann folgte in einem Haus mit dunkelviolettem Anstrich ein Musikstudio. Auf der anderen Straßenseite konnte er ebenfalls solche Firmenschilder erkennen. Der Hauseingang, an dem es geschehen war, lag nur noch zwanzig oder dreißig Meter entfernt. Mit jedem Schritt, den er näher kam, wurde er langsamer, als ob sich seine Beine weigerten, ihn dorthin zu bringen. Immer schwerer fiel ihm das Abstützen auf die Krücken, seine Oberarme, an denen die Krücken rieben, schmerzten, und die Wunde in seinem Bein pochte. Wie heiß es doch war. Aus jeder Pore seiner Haut trat Schweiß. Kehle, Mund, waren ausgetrocknet und die Handflächen so nass, dass sie auf den Griffen der Krücken abrutschten. Schritt für Schritt, Meter für Meter kämpfte er sich vorwärts, gegen den Willen seines Körpers und gegen die Angst, die Begegnung nicht aushalten zu können. Aber er musste weiter. Er hatte es sich vorgenommen. Nur so könnte er sich vielleicht an etwas erinnern, das ihm helfen könnte, den Mörder zu finden. Also hinkte er weiter, setzte erst die Krücken auf, zog dann die Beine nach, hielt das verletzte Bein leicht angewinkelt, dass es nicht auftreten würde. Wie ein Kriegsheimkehrer fühlte er sich, ein Invalider, der nach Hause zurückkam, mit den Bildern vom Krieg im Kopf und den Erinnerungen, wie es zu Hause gewesen war. Hier war das Schaufenster des Internetshops. Zu viert waren sie nebeneinander hergegangen. Der Bürgersteig war breit. Noch drei, vier Schritte. Hier hatte Jack etwas gesehen. Was? Aufglimmende Zigaretten? Hatte die Spurensicherung dort etwas