Jede Nacht gingen die Zwillingsschwestern auf Nahrungssuche.
In einer Nacht im Oktober war ein Sturm aufgezogen. Am Himmel zogen sich bereits dunkle Wolken zusammen und es begann zu regnen. Die Nacht war tiefschwarz und die umliegenden Häuser waren alle dunkel. Soleil und Marguerite wollten nicht lange in dieser ungemütlichen Nacht draußen sein und hielten Ausschau nach Obdachlosen, an denen sie sich schnell nähren konnten. Auch wenn sie sich so schnell bewegen konnte, dass ihnen kein menschliches Augen hätte folgen können, trugen sie schwarze Kleider und Umhänge in gleicher Farbe, damit sie mit der Nacht geradezu verschmelzen konnten. Sie schlichen eine enge Straße entlang, als sie einen erstickten Laut hörten. Sie sahen sich fragend an und folgten eilig dem Geräusch. Aus einer kleinen schmalen Gasse war nun ein Wimmern zu vernehmen, das sie sehr beunruhigte. Sie hielten an und blickten vorsichtig um die Ecke.
Was sie sahen, ließ ihnen das Blut in den Adern gefrieren. Ein großer Vampir, schön wie ein Engel aber offensichtlich mit dem Teufel im Leib, hielt einen beleibten Mann von hinten fest umklammert und hatte seine Fangzähne tief in seinem Hals vergraben. Wo die Schwestern immer bemüht waren, sehr sanft und vorsichtig bei der Nahrungsaufnahme vorzugehen, riss dieser Vampir dem Mann förmlich den Hals auf, so dass das Blut hervor spritzte. Er umklammerte den Brustkorb des Mannes mit seinen starken Armen so fest, dass der Mann kaum noch Luft bekam. Gierig trank der Vampir das Blut, das warm und dickflüssig, aus dem Hals des Mannes floss. Dabei machte der Vampir schlürfende Geräusche, so dass Soleil sich angewidert von dem Anblick abwandte.
Sicher, sie waren Vampire und sie musste Menschen beißen und deren Blut trinken um zu überleben, aber sie waren auch Menschen, mit einem Gefühl für Recht und Anstand. Das hier, war falsch. Und unmenschlich. Vampire mussten nicht töten um sich zu ernähren. Aber dieser Vampir schien Freude dabei zu empfinden, während er brutal von dem Mann trank und ihm gleichzeitig quälende Schmerzen zufügte.
Marguerite dachte kurze darüber nach, den Vampir von dem Mann wegzuziehen aber sie wusste nicht, ob sie stark genug war, um sich gegenüber dem fremden Vampir, der sehr groß und muskulös war, behaupten zu können. Zudem wurde der Herzschlag des Mannes zusehends schwächer. Er würde nur noch wenige Sekunden leiden müssen, dann würde sein Leben vorbei sein.
Der Vampir hatte so viel Blut von dem Mann getrunken, das nichts und niemand den Mann mehr hätte retten können. Die Schwestern warfen sich einen Blick zu und nickten stumm. Im nächsten Moment waren sie verschwunden. Ließen den Mann, dessen Herz gerade zum letzten Mal geschlagen hatte, bei dem Vampir der auch noch den letzten Tropfen Blut aus dem Körper saugte. Als sich die Schwestern bereits in Vampirgeschwindigkeit entfernt hatten, blickte der Vampir auf. Er war so versunken gewesen, ganz auf sein Vergnügen fokussiert, dass er die beiden anderen Vampire nicht bemerkt hatte. Nun ließ er den toten Körper des Mannes achtlos zu Boden sinken, wischte sich mit dem Handrücken über seinen Mund und leckte sich noch einmal genüsslich die Lippen. Dann, nur einen Wimpernschlag später, war er verschwunden. Der Körper des toten Mannes lag in der Gasse und der Regen würde alle Spuren fortspülen. Wenn man ihn finden würde, dann würde man annehmen, dass ihn ein wilder Hund oder ein verirrter Wolf getötet haben würde.
Soleil und Marguerite waren zurück nach Hause gelaufen, ihnen war der Hunger vergangen.
„Meinst du, wir werden auch einmal so?“, fragte Marguerite während sie eine Kanne Tee aufgoss.
„Nein. Jedenfalls hoffe ich das. So würde ich nicht leben wollen. Der Mann ist tot. Der Vampir hat ihn vollständig leer getrunken. Er war brutal und rücksichtslos… ich kann mir nicht mal ansatzweise vorstellen so zu sein.“ Soleil saß auf dem kleinen Sofa und hatte ihre Füße an ihren Körper gezogen. Sie hatte immer noch den panischen und ängstlichen Blick des Mannes vor Augen, der sie sicherlich noch lange verfolgen würde.
„Ich war kurz am überlegen, ob wir den Mann hätten retten sollen“, sagte Marguerite als sie mit der vollen Kanne Tee ins Wohnzimmer kam, Tee in die vorgewärmten Tassen einschenkte und sich dann zu ihrer Schwester aufs Sofa setzte.
„Wir hätten für den Mann nichts mehr tun können.“
„Ich weiß, aber wir hätten ihn alles vergessen lassen können und er wäre friedlich und ohne Angst gestorben.“
„Aber hätten wir den anderen Vampir besiegen können, wenn es zu einem Kampf gekommen wäre? Der sah nicht so aus, als hätte er sich freundlich von uns überreden lassen.“
Marguerite nickte, daran hatte sie natürlich auch gedacht.
Sie mussten sich eingestehen, dass sie nichts für den Mann hatten tun können.
Es war ihre erste Begegnung mit einem ihrer Art gewesen. Sie hatten immer gehofft, dass sie auf einen Vampir treffen würden, der so wie sie war, freundlich und begierig darauf, andere Vampire zu treffen und der ihnen mehr über sich hätte erzählen können. Sie hätten aber nie damit gerechnet, dass der erste Vampir dem sie über den Weg liefen, ein wahres Monster war. Kein Wunder, dass sich die Geschichten um blutsaugende Monster, wie Vampire oft bezeichnet wurden, so lange hielten. Dieser Vampir war sicherlich nicht die Ausnahme, aber die Wahrheit mit eigenen Augen ansehen zu müssen, hatte die beiden Schwestern sehr getroffen.
Sie nahmen sich vor, von nun an den Menschen beizustehen, wenn sie es konnten.
„Wir müssen kämpfen lernen“, schlug Soleil und pustete vorsichtig in ihren Tee.
„Aber wer wird uns das zeigen?“
„Hier sicherlich niemand, dafür müssten wir ins Ausland gehen.“
Marguerite sah sie mit großen Augen an. „Du willst von hier weg?“
„Ich habe mal davon gehört, dass man in China die Kampfkunst beherrscht, vielleicht würde uns dort jemand etwas beibringen.“
„Also, bevor wir unsere Koffer packen, würde ich mich gerne umhören, ob es hier nicht jemanden gibt, der uns das Kämpfen lehren kann.“
Soleil zuckte mit ihren Schulter. „Na schön, mach das. Aber wenn ich das nächste Mal einen Vampir sehe, der einen Menschen quält, dann werde ich eingreifen.“
Und Marguerite konnte sehen, dass es ihrer Schwester ernst damit war.
„Und ich werde dich unterstützen.“, versprach sie ihr.
Sie fanden niemanden, der sie lehrte wie man richtig kämpfte. Allerdings hätte sie auch nie Gelegenheit gehabt, ihr Wissen anzuwenden, denn auch wenn sie Augen und Ohren immer offen hielten, so lief ihnen in den nächsten Jahrzehnten kein weiteres Mal ein Vampir über den Weg.
Im Laufe der Jahre lernten sie, all ihre Fähigkeiten zu perfektionieren und fanden heraus das sie noch über zusätzliche Fähigkeiten verfügten, von den ihnen ihre Eltern nichts erzählt hatten. So konnte Soleil einem Menschen nicht nur die Erinnerung nehmen, sondern gelöschte Erinnerungen auch wieder zurückgeben. Sie hatte es einmal versucht, als sie einen Mann gebissen hatte, den sie mochte. Es schien ihm gefallen zu haben, dass sie ihm während ihres Liebesspiels gebissen hatte und so hatte sie ihm die vorher gelöschte Erinnerung zurückgegeben, in der Hoffnung, er würde sie für das was sie war akzeptieren. Aber kaum das er sich wieder an das, was war und was sie getan hatte erinnern konnte, hatte er panisch geschrien und hatte versucht vor ihr zu fliehen. Kein Mensch konnte einem Vampir entkommen und so hatte Soleil ihn schnell wieder eingeholt und ihm die Erinnerungen dann wieder gelöscht. Diesmal jedoch so gründlich, dass er sich danach kaum noch an etwas erinnern konnte. Soleil wusste nicht wie das passiert konnten, denn das war nicht ihre Absicht gewesen. Aber auch wenn sie den Mann nicht getötet hatte, so hatte sie ihm ein Teil seiner Persönlichkeit für immer genommen. Trotz dem was passiert war, hatte Marguerite ebenfalls einmal versucht, gelöschte Erinnerungen zurück zu geben, aber es hatte nicht funktioniert. Sie konnte nur Erinnerungen löschen. Dafür konnten beide die Erinnerungen von Menschen komplett manipulieren, also alte Erinnerungen durch neue ersetzen. Zudem verfügten sie beide über eine Macht in ihren Stimmen,