Vor meinem geistigen Auge sah ich mich, tropfnass vor dem Spiegel stehend, während ich unbewusst meinen Bauch einzog. In letzter Zeit hatte ich mich öfter dabei erwischt, genau das zu tun. In der Regel pflegte ich in solchen Fällen, den Typen im Spiegel kurz anzugrinsen und dabei mitleidig den Kopf zu schütteln. Dann ließ ich den Bauch wieder raus – ohne genau hinzusehen, versteht sich – und trocknete mich ab.
Hier war noch ein Schluck Bier nötig. Offenbar war ich einer größeren Sache auf der Spur.
Ich wischte mir den Mund ab und versuchte erneut, mich einer eingehenden Betrachtung zu unterziehen, doch der Badezimmerspiegel war einfach zu klein. Für eine genauere Beurteilung meiner selbst waren andere Kaliber notwendig.
Auf dem Weg zurück ins Wohnzimmer stieß ich schmerzhaft mit dem Oberschenkel gegen die Ecke der Kommode, auf die wir immer unsere ungeöffnete Post legten. Ich war kurz davor, laut „Autsch“ zu sagen, verkniff es mir aber, weil ich halt gerade so männlich war.
Dann überkam mich eine Einsicht, die mir tatsächlich für einen Moment die Sprache verschlug: Wenn ich aus der Dusche stieg, den Bauch eingezogen, obwohl neben mir niemand im Raum war, den ich hätte bescheißen können, was bedeutete das dann?
Klare Sache!
Da außer mir niemand anwesend war, versuchte ich offensichtlich, mich selbst zu bescheißen. Es war exakt die selbe Nummer, die ich abgezogen hatte, als ich mir vor ein paar Sekunden das „Autsch“ verkniff, um vor mir selbst ein besseres Bild abzugeben.
War ich wirklich so weit den Bach runter? Konnte ich mich selbst nicht mehr im Spiegel ertragen, ohne vorher den Bauch einzuziehen? Hatte ich das wirklich nötig?
Verdammt, ja! Offensichtlich!
Das war Selbstbetrug in Reinkultur! Mein Gott, was war nur aus mir geworden? Ich hatte mir selbst jahrelang einen Robert vorgespielt, den es in Wirklichkeit gar nicht gab!
Aber damit würde jetzt Schluss sein. Ein für allemal. Wie sah ich eigentlich aus? Ich meine: Wie sah ich eigentlich WIRKLICH aus? Gütiger Himmel, ich hatte tatsächlich keine Ahnung!
Ich wollte noch einen Schluck trinken, aber die Flasche war schon wieder leer. Irgendwann würde ich etwas dagegen unternehmen müssen, wenn ich hier nicht verdursten wollte. Ich taumelte zurück in Richtung Küche. Der Kühlschrank war leer, aber da war noch eine Kiste Pils im Keller, von der ich eigentlich geglaubt hatte, ich würde sie frühestens am Wochenende anbrechen. Scheinbar war ich, zumindest meinen Bierkonsum betreffend, während der vergangenen Tage fleißiger bei der Sache gewesen, als ich vermutet hatte. Also nichts wie hinunter in den Keller. Mehr Bier musste her, denn ich war hier einer verdammt großen Angelegenheit auf der Spur, die – allem Anschein nach – mit Selbsterkenntnis und Ehrlichkeit zu tun hatte.
So etwas kann nicht warten.
Als ich, mit ein paar Flaschen bewaffnet, wieder die steile Kellertreppe in Angriff nehmen wollte, fiel mir ein, dass in einem hölzernen Verschlag unter der Treppe ein großer Garderobenspiegel stehen musste. Karin hatte ihn vor Jahren mal als Teil eines alten – und wie wir damals noch glaubten – möglicherweise antiken Ensembles aus Schrank, Kommode und eben jenem Spiegel günstig erstanden, und im Laufe der Zeit hatten wir aus Platzmangel alles Stück für Stück auf den Sperrmüll gestellt.
Alles, bis auf den großen Spiegel.
Sollte ich mich wirklich trauen?
Ja. Ich musste es geradezu tun. Es war jetzt oder nie.
Wenn ich hier schon eine Art besoffener Selbsterkenntnis praktizierte, dann wollte ich es auch bis zum bitteren Ende tun. Ich fand den Spiegel auf Anhieb. Seine Ränder waren an verschiedenen Stellen bereits ein wenig milchig und blind geworden aber für meine Zwecke würde er ausreichen. Um mir die Schlepperei zu ersparen, lehnte ich ihn gleich hier im Keller gegen eine Wand, trat ein paar Schritte zurück, um mich in voller Größe bewundern zu können und begann damit, mich auszuziehen. Ich nahm noch einen tiefen Schluck, denn das hier würde nicht leicht werden. Das war mir klar.
Zuerst riss ich mir förmlich das Hemd vom Leib. Die Szene hätte etwas erotisches an sich gehabt, wären es die Chippendales gewesen, die sich das Hemd vom durchtrainierten Körper gerissen hätten. Ich war aber nicht die Chippendales, ich war der Kruse aus der Lohnbuchhaltung, der Reihenhausheld mit dem Ersatzpimmel auf dem Parkplatz. Das war zweifellos überhaupt nicht chippendalig, es war in seiner unfassbaren Karlheinzhaftigkeit schon beinahe bemitleidenswert.
Um genau solche Einsichten ging es hier.
Es war an der Zeit, mir selbst so einiges einzugestehen. Deshalb stand ich leicht knülle im Keller. Deshalb war ich hier und deshalb würden jetzt Fakten geschaffen werden. Jetzt waren Schuhe, Hose, und schließlich die Socken an der Reihe. Beim Unterhemd hielt ich noch einmal kurz inne, um einen Schluck zu trinken.
Dann war ich soweit.
Ich hatte bereits die Hände am Saum, bereit, mir das T-Shirt über den Kopf zu ziehen, da schaute ich noch einmal meinem Spiegelbild in die Augen.
»Showtime«, murmelte ich.
Mein Hemd wölbte sich in Bauchhöhe kräftig nach außen. Aber diesmal machte ich mir nicht die Mühe, den Bauch einzuziehen. Es war so weit. Es gab keinen Weg zurück. Ich zog mir das Hemd über den Kopf, und dann glitt mit meiner Unterhose das letzte Stück Stoff, das meinen Körper noch bedeckt hatte, auf den Kellerboden.
Nun stand ich da, wie Gott mich geschaffen, oder besser: wie mein Leben mich in den letzten zwanzig oder dreißig Jahren geformt hatte. Ich starrte mich an. Frontal, splitternackt, ungeschönt, im gleißend hellen Licht der Neonröhre in meinem Reihenhauskeller.
Mein Gott, das war also ICH.
Ich, ohne jede Maskerade. Da war er. Der ganz private Robert Kruse. Ich schaute den nackten Mann im Spiegel an, während ich hämisch applaudierend in die Hände klatschte. Dann wurde mir bewusst, wie dämlich das aussehen musste, also ließ ich es wieder sein.
»Meine Damen und Herren«, dröhnte ich, »Ich präsentiere Ihnen Robert Kruse! Den Mann, der es schaffte, sich im Spiegel anzuschauen, ohne sich dabei ernsthaft zu verletzen! Ich bitte um Ihren Applaus!«
Zaghaft machte ich einen – eher wissenschaftlichen – Versuch, meine Muskeln anzuspannen. Als der eher wissenschaftliche Versuch nicht die gewünschten Resultate erbrachte, versuchte ich es mit etwas mehr Elan.
Nichts tat sich. Oder zumindest nicht genug.
Es hatte einmal Zeiten gegeben, in denen ich regelmäßig Sport getrieben hatte. Wann war das noch mal? Kurz nach dem Meteoriteneinschlag, der die Saurier gekillt hatte? Zumindest sah ich so aus.
»Mann, Mann, Mann... Du musst Zukunft besser auf dich achten, mein Freund.«
Ich bückte mich nach der Bierflasche, die auf dem Boden stand und machte dabei Geräusche, wie ein sterbender Elch. Als ich mich wieder aufgerichtet hatte, atmete ich tief durch, nahm einen kräftigen Schluck, schaute wieder in den Spiegel und da fügte sich das komplette Bild des Grauens zusammen.
Plötzlich war der Selbsthass da.
Was ich sah, war ein fetter, untrainierter Mittfünfziger, der, schwankend und angesoffen, splitternackt in seinem Keller stand und mit glasigem Blick und einer Bierflasche in der Hand in einen milchig-trüben Spiegel glotzte.
Ich war zu einem der Typen geworden, die ich in Jugendjahren immer zutiefst verachtet hatte. Ich war ein langweiliger, spießiger, farbloser Kombifahrer-Arsch! Ich war ein abstoßendes, graues, altes Bügelfaltenhosen-Kegelklub-Sackgesicht, ein Möchtegernbiker mit Saisonkennzeichen, ich war ein richtiger „Erwachsener“.
Kein schöner Anblick.
Der Fettsack im Spiegel rülpste und wischte sich mit dem Handrücken über die obere Hälfte seines beginnenden Doppelkinns.
Nein,