Lachen Sie ruhig, aber ich glaube, dass ich erst in diesem Moment wirklich verstand, dass sie weg war. Erst in dieser Sekunde begriff ich auch emotional, dass Karin nicht mehr hier wohnte, nicht da war, nicht nur zum Einkaufen gegangen, sondern tatsächlich weg war.
Wirklich weg.
Meine Schuhe brachten mich fast um, denn sie waren neu und noch nicht eingelaufen, aber ich behielt sie trotzdem noch fast eine ganze Stunde lang an, als ich so auf meinem Sofa lag und mich gähnend über die Fußballergebnisse der Regionalliga Nord informierte. Es handelte sich um ein Thema, das mich in etwa so brennend interessierte, wie die durchschnittlich anzunehmende Reproduktionsrate westsudanesischer Kartoffelkäfer.
Aber ich genoss es. Jede Minute davon.
Die ganze Situation hatte etwas Diebisches, etwas Verbotenes an sich. Tief in mir drin machte sich ein Gefühl breit, an das ich mich kaum mehr erinnern konnte. Zuerst wollte es mir nicht einfallen, doch dann wurde mir klar, womit sich dieses Gefühl am besten vergleichen ließ: Es war wie damals, als ich während eines Aufenthaltes im Schullandheim in Kommern meine erste Zigarette rauchte. Wir standen im Freilichtmuseum hinter einer antiken Scheune und pafften. Als wir dann wieder zu unserer Klasse stießen und uns nach einem kurzen Moment des Muffensausens klar wurde, dass unser Lehrer offenbar nichts von unserem kleinen Abenteuer mitbekommen hatte, waren wir kleinen Hosenscheißer alle stolz wie Oskar. Auch, wenn unsere Gesichter die Farbe von wässrigem Spinat angenommen hatten, und wir es kaum erwarten konnten, die nächste Toilette zu stürmen, waren wir die unbesungenen Helden des Tages. Ein ganz ähnliches Hochgefühl überkam mich jetzt, während ich in schmerzenden Schuhen auf der Couch lag und einen Dreck darum gab, ob sich das gehörte, oder nicht.
Finden Sie das lächerlich?
Ich auch.
Aber in dem Moment war es gut und richtig und vielleicht sogar wichtig für mich. Immerhin sagt man ja, es sei nie zu spät, eine glückliche Kindheit zu haben! Ich muss zugeben: Ich genoss die Zeit. Macht mich das zu einem schlechten Menschen? Wohl kaum.
Tja, und nun sind wir an einer Stelle meiner persönlichen Geschichte angelangt, deren Erzählung ich Ihnen (und vor allem mir selbst) liebend gern ersparen würde, doch die sogenannte Chronistenpflicht verlangt wohl von mir, auch von Dingen zu berichten, bei denen ich nicht allzu gut dastehe. Ich spreche von einem Abend, an dem ich mich wahrhaftig zum Affen machte, der aber nichtsdestotrotz einen Meilenstein in meiner persönlichen Geschichte darstellt. Nun, es gibt positive und es gibt negative Meilensteine. Ich meine, wenn man zum Beispiel nur mal die NASA nimmt, gibt es die erste Mondlandung, und es gibt die Challenger-Explosion. Der Abend, von dem ich Ihnen jetzt erzähle muss, fällt definitiv in die Challenger-Kategorie.
Der Termin der Abreise war nur noch wenige Tage entfernt und ich machte mir mal wieder ein Bier auf, obwohl ich zu diesem Zeitpunkt schon mehr als genug getankt hatte. Es war halt einer dieser Abende, wenn Sie verstehen.
Ich nahm mir eine Tüte Chips, streckte mich genüsslich, zog mir ein paar Schuhe an und legte meine Füße auf die Couch. Ich trank einen Schluck, krümelte mit den Chips herum, zappte durch die Kanäle, trank erneut und schüttelte missbilligend den Kopf als mir klar wurde, dass eine riesige Anzahl an Fernsehsendern keinesfalls eine riesige Auswahl bedeuten musste. Aus Mangel an interessanten Fernsehübertragungen richtete ich meinen Blick langsam immer mehr auf mein eigenes Programm.
»Tja, Kruse. Da bist du wohl tatsächlich noch mal ein waschechter Single geworden«, raunte ich mir zu, während ich zufrieden seufzte und noch einmal den Bierpegel in meiner Flasche absenkte, »Freie Wildbahn... Robert der Junggeselle...« Noch ein schneller Schluck aus der Flasche. Warum hatte Karin eigentlich immer darauf bestanden, dass ich mein Bier aus einem Glas trank? Die Flasche war schließlich auch aus Glas, verdammt noch mal!
Ich will gar nicht über Gebühr auf die sonstigen Offenbarungen des nun folgenden Abends eingehen, denn wer schon einmal Alkohol getrunken hat, der weiß, dass man unter all den kleinen und großen Weisheiten eines solchen Abends selten etwas findet, das auch am nächsten Tag noch nach einer guten Idee klingt.
Wie dem auch sei, als ich etwa eine Stunde später zu meiner persönlichen Bestandsaufnahme schritt und das Badezimmer betrat, war ich voll wie ein Eimer und stramm wie eine Handbremse.
»Kruse«, blaffte ich den Typen im Badezimmerspiegel an, »Kruse, du biss ne Pfeife! Eine Pfeife bissu! Eine verkackte Pfeife! Ehe kaputt, Frau weg, alles im Arsch, du Pfeifenkopp!«
Wieder ein Schluck Pils, dann war die Flasche leer.
»Du wirst alt und fett wirst du auch, und die Schulze vom Personal hat neulich die kleine Weslowski in der Pause gefragt, wem eigentlich der Ersatzpimmel auf dem Parkplatz vom Kruse gehört... „Ersatzpimmel“ hat sie gesagt! Da zahlst du noch drei Jahre drauf ab, auf deinen Ersatzpimmel, Kruse!«
Ich hatte mir ein Motorrad gekauft. Nur so, gebraucht aber gut erhalten, mit Saisonkennzeichen für die Zeit von April bis Oktober, aber Karin hatte schon damals gesagt, dass sie keine zehn Pferde auf das Ding bekommen würden. Sie sagte damals auch, dass Männer, die in meinem Alter noch mit dem Motorradfahren anfingen, wahrscheinlich irgend etwas nachzuholen hätten, und das sie bei dem Anblick eines Mittfünfzigers in Lederkluft immer lachen müsse. Als ich sie fragte, warum, meinte sie, sie würde ja schließlich auch einem jungen Knackarsch mit Waschbrettbauch keine Hosenträger anziehen. Sie würde es begrüßen, so sagte sie, wenn die Herren „am anderen Ende der Skala“ sich ähnlich altersgemäß verhielten. Vielleicht ging die ganze Sache ja auch schon mit der Motorrad-Geschichte los, und die Tickets in die Karibik waren nur der berühmte Tropfen, der das Fass letztendlich zum Überlaufen gebracht hatte. Sah ich in der Motorradkutte wirklich so lächerlich aus? Karin war offenbar der Meinung, aber was wusste Karin schon? Karins Meinung war mit Karin zusammen in den Ruhrpott gezogen und konnte mir ab sofort völlig egal sein.
Mir konnte ab sofort im Grunde genommen so gut wie alles egal sein, ging mir auf. Alles, außer Robert, dem Junggesellen. Dem neuerdings allein lebenden Biertrinker auf Probe. Robert, dem Single, dem baldigen Karibikreisenden und Weltenbummler.
Noch ein Schluck aus der Pulle.
Die Flasche war noch immer leer. Seltsam.
Ich ging in die Küche, öffnete eine neue Düse, nahm einen tiefen Schluck und ging zurück ins Bad, wo ich mich wieder vor den Spiegel stellte.
»Pfeife!«
Ich hielt kurz inne als mir klar wurde, dass ich mich einerseits über meine neue Freiheit freute und mich für einen ziemlich coolen Typen hielt aber andererseits offenbar gerade dabei war, mich selbst verbal zur Schnecke zu machen. Interessant. Was war ich denn nun? Eine Pfeife oder ein cooler Typ mit Karibik-Ticket? Ich rülpste, blickte an mir hinunter, dann wieder zurück zu dem Kruse im Spiegel. Innerlich war ich scheinbar ziemlich gut drauf, aber der Typ im Badezimmerspiegel passte irgendwie nicht zu meiner inneren Coolness. Also war ich doch eine Pfeife. Zumindest äußerlich. Ich beschloss, mich über diese Erkenntnis zu informieren.
»Ne Pfeife bisse! Außerdem fängste an, zu lallen, du Besoffski...«
Ich musterte den Typen, der mir aus dem Spiegel entgegen glotzte. So richtig vertraut sah mir der Kerl eigentlich gar nicht aus. Das sollte ich sein? Noch ein schneller Schluck Bier.
»Wow«, murmelte ich, »Da is´ aber schon ganz schön der Lack ab, mittlerweile...«
Ich ging einen Schritt zurück, um eine etwas komplettere Ansicht meines Gegenübers zu bekommen, doch der kleine Badezimmerspiegel reichte nicht aus, um mich in der Totalen einzufangen. Über diese ganze besoffene Selbstbetrachterei kam mir eine interessante Frage in den Sinn: Wie zum Teufel sah ich eigentlich aus? Ich meine, wie sah ich wirklich aus? Jeder Mensch hat ein bestimmtes Bild von sich, dieses Bild ist aber extrem subjektiv eingefärbt! Jetzt, wo ich mich gerade alkoholbedingt nicht in meinem Kopf befand, ergab sich für mich vielleicht die Möglichkeit, mich mal von außen zu betrachten! Mich wirklich so zu sehen, wie es andere Menschen taten! Vielleicht war dies meine Chance, einen Blick auf den wirklichen Kruse zu werfen, den wahren Kruse, ohne die Filter von Scham und Vertrautheit, die man sonst immer bemüht, wenn man in einen Spiegel schaut! Man glotzt