Tödliche Sure. Wolf Thorberg. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Wolf Thorberg
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738024739
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an mit dem Mahdi die Herrschaft der Reinen bis zum Letzten Gericht.«

      Ruhollah schloss daraus: In Wahrheit hatte kein Auto Isa überfahren. Er war nicht tot, sondern selbst der verborgene Imam, unsichtbar, bis jener Teppich auftauchte. Dann würde er als Mahdi zurückkehren mit dem Jüngsten Gericht.

      Und so gründete er, um dereinst Isa zu empfangen, die Bruderschaft der Wahrhaftigen und Treuen Söhne Ismails.

      Knapp sechzig Jahre später und einen Tag, nachdem deren drei Abgesandte Hormoz das Ohr abgeschnitten hatten, stand Kazem Ali Tabrizi im Arbeitszimmer seines Anwesens im vornehmen Londoner Stadtteil Hampstead Heath. Er war Ruhollahs Nachfolger als Scheich, wobei »Nachfolger« den Sachverhalt nur unzulänglich beschrieb. Genau genommen hatte er den längst Hinfälligen im Bett mit einem Kissen erstickt und seinen Platz eingenommen. Nicht bloß war Ruhollah nach allgemeiner Ansicht nicht mehr in der Lage gewesen, Isas Auftrag zu erfüllen, sondern Allah selbst hatte es Tabrizi in einer nächtlichen Vision befohlen.

      Was ihm Sorgen bereitete war, dass der Ärmste es nicht hatte akzeptieren wollen und sich gewehrt hatte. Damit hatte sein verehrter Vorgänger sich versündigt und seitdem schloss Tabrizi ihn in die Gebete mit ein.

      Nach dem Dahinscheiden seines Vorgängers baute er die Sekte aus und gründete neben Täbris, Ruhollahs Heimatstadt, eine weitere Tekke, so viel wie eine Zweigstelle, in Teheran. Was sich allerdings als Missgriff erwies, denn damit geriet er ins Radar der iranischen Religionspolizei, die ihn der Ketzerei und angeblichen Misshandlung von Anhängern beschuldigte. Er wurde im berüchtigten Evin-Gefängnis gefoltert, konnte aber dank Allah und gewisser Geldgeschenke mit den engsten Getreuen nach London fliehen. Von dort aus gründete er Zweigstellen in Europa und dem Nahen Osten. Denn das Heer der Reinen, die Ar­mee des Mahdis, sie sollte wachsen bis zum Tag aller Tage.

      Allerdings plagten ihn mittlerweile Zweifel, ob er diesen an der Spitze der Bruderschaft oder im Grab erleben würde. Eine Unsicherheit, derentwegen er wieder einmal seinen Sohn einbestellt hatte.

      »Hamid, ich habe dir einen Vorschlag zu machen.«

      Gemessenen Schrittes ging er vom Fenster zum Schreibtisch, vor dem sein Ältester auf einem Stuhl Platz genommen hatte. Sein pausbäckiges Gesicht war ausdruckslos, die Gestalt reglos wie ein Kokon. Trotzdem entging Tabrizi nicht das Misstrauen in seinen Augen.

      »Nächstes Frühjahr legst du die Prüfung zum Bachelor ab, richtig?«

      »Ja, Vater, so Allah will, wie du es sagen würdest.«

      »Wie ich es sagen würde? Sieh dich vor! Außerdem sollst du mich mit ›mein Scheich‹ anreden wie alle. Ich bin dein Scheich.«

      »Ja, mein Scheich und mein Vater. Entschuldigt mich.«

      Tabrizi geriet in Wallung und kam schneller zum Thema als erwartet. Er setzte sich in den Sessel, raffte seinen wollenen Umhang und schlug die Beine übereinander.

      »Das ist der springende Punkt. Seit du studierst, bist du kaum noch da. Du entfernst dich von mir, den Söhnen, vor allem von Allah. Dein Bruder sagt, du triffst dich mit seltsamen Leuten, liest Science-Fiction-Romane und betest kaum. Du isst außerdem heimlich Schokolade. Denk nur daran: Die sich im Diesseits die Mägen füllen, werden im Paradies am längsten hungrig bleiben!«

      Hamids Gesicht nahm eine purpurne Farbe an. »Die ›seltsamen Leute‹ sind meine Kommilitonen und wir lernen zusammen. Du selbst hast gesagt, Allah liebt die, die wissen und ihre Arbeit beherrschen. Und was Reza angeht, diesen …«

      »Verdamm nicht den Boten für die Nachricht«, schnitt Tabrizi ihm das Wort ab. »Hamid, wer soll das Werk fortführen, wenn ich einmal älter werde? Du bist unreif, spielst herum, übersiehst den Teufel, der hinter jeder Ecke lauert. Und ich frage mich, ob du nicht am Ende abfällst …«

      Die Starre war aus Hamids Miene gewichen. Tabrizi hatte ihn aufgerüttelt und jetzt konnte er ihn studieren.

      »Ich … falle keineswegs ab. Aber warum muss ich dein Nachfolger werden? Nimm doch Reza!«

      »Ach, Reza …«

      »Oder irgendeinen anderen. Weshalb ich?«

      »Weil ich es so entschieden habe«, sagte er kühl.

      In seinem Sohn kochte es jetzt. Und wie Tabrizi erwartet hatte, flog der Deckel am Ende vom Topf. »Und warum?«, fauchte Hamid. »Weil du Angst hast, ein anderer könnte eines Tages dir ein Kissen aufs Gesicht pressen?«

      Ihn mit der Wahrheit zu bespucken, war verwerflicher als eine Lüge. Tabrizi griff zum Glas auf dem Tablett neben sich und kippte ihm den Pfefferminztee ins Gesicht. »Dafür, dass du die Gerüchte der Feinde Allahs glaubst.«

      Hamid wischte sich schweigend den Tee ab und stopfte die feuchten Blätter in die Jeanstasche. Sein Ausbruch war so schnell vorüber, wie er gekommen war. Es brauchte einiges, um ihn aus der Ruhe zu bringen. Tabrizi hatte früher das Leder etlicher Gürtel an ihm abgewetzt. So wie sein eigener Vater an ihm. Deshalb zog er ihn Reza vor. Nur ein Elefant überlebte zwischen Schlangen.

      »Ich habe dich kommen lassen«, fuhr er fort, als wäre nichts geschehen, »um dir mitzuteilen, dass du im Frühjahr dein Studium unterbrichst. Du wirst für ein halbes oder ganzes Jahr zu Khalil nach Täbris gehen. Dort studierst du den Koran und erforschst Allahs Willen. Dann schauen wir, ob du noch ein Masterstudium aufnimmst.«

      »Wie Ihr wünscht, mein Scheich«, sagte Hamid gepresst. Er sah aus, als wollte er aufstehen. Dann schien ihm noch etwas einzufallen. »Eine Frage noch. Soll ich …«

      In diesem Augenblick klingelte das Telefon. Tabrizi sah auf die Nummer, ausgerechnet Khalil. Er überlegte, Hamid mithören zu lassen, aber sein Anblick irritierte ihn. Er scheuchte ihn mit einer Handbewegung weg. »Geh und mach dich sauber. Wir reden später.«

      Sein Sohn stand auf. Er verbeugte sich und ging mit abgehackten Schritten aus dem Zimmer.

      »Khalil, was für ein Zufall«, begrüßte Tabrizi seinen Statthalter. »Ich hab dich sowieso anrufen wollen. Es geht um Hamid. Ich wollte dich nämlich bitten …«

      »Mein Scheich«, fiel Khalil ihm ins Wort. »Wenn Ihr erlaubt, es ist etwas sehr Wichtiges geschehen.«

      Wenn er ihn unterbrach, musste es so sein. »Und was?«

      »Der Teppich ist aufgetaucht.«

      »Der Teppich? Wovon redest du?«

      »Mein Scheich, DER Teppich.«

      Nachdem Khalil aufgelegt hatte, starrte Tabrizi zum Porträt Isas an der Wand gegenüber. Es zeigte in Öl gemalt vor einem flammenden Hintergrund einen jungen, fast knabenhaften Mann mit Bart, Turban und leuchtenden Augen. Mit den ausgebreiteten Armen schützte Isa die Rechtgläubigen vor den hinter ihm aus der Hölle kriechenden Missgeburten.

      Würde er bald erscheinen? Und wann und wo? Und was sollte er unternehmen? In Tabrizis Kopf wirbelten die Gedanken wie Geister durcheinander. Schwer atmend setzte er sich wieder. Er nahm die mit einem weißen Turban umwickelte, grüne Filzmütze ab und stellte sie neben sich. Anschließend öffnete er ein Fach im Schreibtisch und holte daraus die Flasche Bushmills und ein Glas. Er goss sich den zwölf Jahre alten Whisky ein und nahm einen langen Zug. Das Wasser schoss ihm in die Augen und Wärme breitete sich in ihm aus. »Verzeih mir, Isa«, flüsterte er und prostete zum Porträt. »Und Allah, verzeih Deinem Diener.«

      Mit dem Trinken hatte er begonnen, nachdem er sich Strom durch den Körper gejagt hatte, um zu beweisen, dass die Liebe zum Erhabenen den Hass seiner ketzerischen Peiniger zu übertrumpfen imstande war. Ja, er hatte Ruhollah erlöst, hatte sich foltern lassen und selbst gefoltert aus Hingabe zu Allah. Nun, ab und zu brauchte er eben ein wenig von der Nachsicht des Höchsten für sich.

      Er trank aus und schloss Flasche und Glas wieder weg. Eine Zeit lang saß er da und genoss die Stille und die Wärme des Alkohols, die ihn einhüllte wie Watte.

      Dann drückte er einen Knopf auf dem Schreibtisch.