Der Ältere mit der Gebetskappe, offenbar ihr Anführer, ergriff wieder das Wort: »Gesegneter Bruder, unser Imam hat geweissagt, dass dereinst ein Hirte auf Alamut einen Teppich finden wird, und mir scheint, du wurdest dafür von Allah auserwählt.«
Hormoz schüttelte den Kopf. »Von Allah auserwählt? Ich?«
Die Miene des Anführers verfinsterte sich, und der Dürre und das Narbengesicht machten einen Schritt auf ihn zu. Hormoz hatte befürchtet, sie kämen von den Archäologen oben. Jetzt wünschte er fast, es wäre so. Hätte er nur das Gewehr geholt. Aber noch war es nicht zu spät.
Er zwang sich zu einem Lachen. »Langsam, Brüder! Ich wollte nur sichergehen, dass ihr die Auserwählten seid, die ihn in Empfang nehmen sollen. Wartet, ich bring ihn euch!«
Er stand auf und ging von ihren bohrenden Blicken begleitet zum Zelt. Dort zog er das Gewehr unter einem Stapel Decken hervor. Es war ungeladen, und es jetzt nachzuholen, würden sie draußen hören. Außerdem wollte er sie nur verjagen, nicht erschießen. Er lauschte nach draußen. Umgekehrt schien ihnen unklar zu sein, dass man durch den Stoff alles mitbekam. Jedenfalls gaben sie sich keine Mühe zu flüstern. Offenbar wunderten sie sich über sein neues Geländemotorrad.
»Ein Hirte, Scheich Khalil. Woher hat er das Geld?«
Hormoz lugte durch die Plane und sah das Narbengesicht und den Betbruder neben dem Motorrad. Er brachte das Gewehr in Anschlag, schob mit dem Lauf den Zeltstoff beiseite und kroch vors Zelt, um sie zu überraschen.
Da explodierte der Schmerz in seinem Kopf in einem weißen Blitz. Er verlor für einen Augenblick das Bewusstsein und ließ das Gewehr fallen. Der Dürre. Er hatte ihn gegen den Kopf getreten und zerrte ihn vors Zelt, während das Narbengesicht die Waffe vom Boden riss und auf ihn richtete.
»Und jetzt gib uns endlich den Teppich!«, zischte der, den sie Scheich Khalil genannt hatten.
Hormoz’ Blick fiel auf sein Frühstücksklappmesser. Es lag neben einem Felsen. Wenn er … Sie wussten ja nicht, dass das Gewehr ungeladen war. Er machte eine Bewegung in die Richtung. Doch der Dürre bemerkte es und trat ihm auf die Hand. Es gab ein Übelkeit erregendes, knackendes Geräusch und Hormoz heulte auf.
Der Dürre packte selbst das Messer, warf sich wie ein Reiter auf ihn und presste ihm die eigene Klinge gegen die Kehle.
»Von Allah kommen wir«, sagte der Scheich, »und Seine Weisheit hat dafür gesorgt, dass oben in der Nische, in die sich eine deiner Ziegen verirrt haben muss, Spuren geblieben sind.«
Spuren? Es war stockfinster gewesen, als er … »Du behauptest, ich hätte in der Ruine einen Teppich geklaut? Was zum Scheitan …« Hormoz bäumte sich auf, aber das Messer presste sich nur fester gegen seinen Hals.
Der Scheich flüsterte seinem Peiniger etwas zu und trat anschließend beiseite. »Wie du willst«, sagte er laut. »Du sollst sehen, wie es Lügnern ergeht.«
Der Dürre machte eine Bewegung und die Klinge verschwand von Hormoz’ Kehle. Dafür brannte gleich darauf ein Schmerz an seiner Kopfseite. Etwas Warmes floss ihm den Hals herunter, und im Staub vor ihm lag ein blasses, knorpeliges Ding.
Er erkannte sein Ohr und gab einen erstickten Laut von sich.
»In der Nische liegen Holzsplitter von einer alten Truhe und Mottenpulver«, sagte der Scheich. »Doch vor allem: Ziegenhaare. Und du bist der einzige Schäfer hier. Allah mag dich ausgewählt haben, den Teppich zu finden. Aber mich hat er erwählt, dir den gierigen Hals durchzuschneiden, wenn du ihn nicht rausrückst. Also …?«
Hormoz linste zur schneeweißen Laleh, der Ziege, die er selbst mit der Flasche aufgezogen hatte, weil ihre Mutter sie abgelehnt hatte. In der Tat hatte sie sich vor einem Gewitter in eine bis dahin verborgene Nische geflüchtet, die das Erdbeben neulich freigelegt hatte. Jetzt hörte sie auf zu grasen und sah herüber, als verstünde sie, worum es ging. Oh Laleh, was hast du mir angetan.
Die Schmerzen in der Hand und an der Kopfseite trieben ihm schwarze Punkte vor die Augen und ließen ihn beinah ohnmächtig werden. Golschifteh, Erfans Tochter, verblich zur fernen Erinnerung, ebenso wie sein freudiges Gefühl beim Aufwachen, wie jener verfluchte »Glückstag«, an dem er die Truhe entdeckt hatte.
»Ich hab ihn doch nicht mehr«, flüsterte er. »Ich hab ihn verkauft. In Teheran, im Basar.«
»Erbärmlicher!«, schrie der Scheich. »Das Geheimnis aller Geheimnisse! Das wird dich in die Hölle bringen. Sag uns, an wen. Sonst …«
Hormoz wollte niemanden mit hineinziehen. Aber er wusste, er würde sonst qualvoll sterben.
2
Die Geschichte von Isa bin Ismail al-Damaschqi begann vor über siebzig Jahren in einem Waisenhaus von Damaskus. In diesem verbrachte Isa seine Kindheit, bis man ihm, als er sechzehn war, die Tür weisen musste. Ab da verdingte er sich als Tagelöhner. Fand er nicht einmal Arbeit als Fäkalienträger, bettelte er. Lief es gut, hatte er ein Bett in einem übelriechenden Schlafsaal. Lief es schlecht, war sein Dach nur das Sternenzelt. Zu essen hatte er gerade genug und weder konnte er lesen und schreiben noch hatte er eine Frau, weder besaß er einen Koran noch ging er in die Moschee.
Er kannte niemanden und niemand kannte ihn.
Trotzdem sprach ihn eines Tages auf der Straße ein vornehm gekleideter älterer Herr an. Der behauptete nicht nur, sein Großonkel zu sein, sondern ließ ihn bei sich wohnen und schickte ihn auf die Koranschule. Vor allem rief er Isa im Sterben liegend zu sich und händigte ihm auf dem Totenbett einige Dokumente aus.
Eines erwies sich als brüchiges, altes Pergament aus der berühmten Bibliothek von Alamut. Darin stand die Weissagung, einst werde ein Hirte dort einen Teppich finden. In diesem wiederum verberge sich eine Botschaft Mohammeds, die, man höre und staune, vom Mahdi, also Erlöser, und vom Jüngsten Gericht handle.
Die übrigen Dokumente waren Stammbäume und Geburtsnachweise, die Isa auswiesen als direkten Nachfahren des Propheten in zweiundvierzigster Generation. Zudem als rechtmäßigen Nachfolger Ismaels, des Urenkels von Mohammeds Schwiegersohn Ali im siebten Glied, und Oberhaupt seiner Anhänger, der Ismaeliten. Die wiederum Nachfahren jener Assassinen waren, die der Legende nach den Teppich in ihrer Stammburg verborgen hatten.
Isas Problem war nur: Jene Ismaeliten besaßen schon einen Anführer. Deshalb reiste er 1956, so viel ist durch Zeitungsberichte verbürgt, in den Iran. Und dort, im Saal eines Teheraner Luxushotels, stellte er den amtierenden Imam zur Rede. Seine Hoheit Aga Khan III war zu Besuch bei den Untertanen, zusammen mit seiner vierten Ehefrau, einer ehemaligen Miss France, und einer Entourage, die unter anderem einen eigenen Hummerkoch umfasste. Der Aga Khan hörte sich die flammenden Reden des jungen Mannes an, der ihn der Dekadenz, der Amtsanmaßung und des Frevels bezichtigte und aufforderte, zu seinen Gunsten zurückzutreten.
Dann warf er ihn hinaus.
Einer der Zuhörer jedoch, Ruhollah Khorasani, ein brennender junger Gläubiger, rannte Isa hinterher und bat ihn um ein Treffen, um mehr über ihn zu erfahren. Sie verabredeten sich für den nächsten Tag in einer Teestube.
Nur, dazu sollte es nicht kommen. Denn am nächsten Morgen überfuhr, auch dies verbürgt, ein Auto Isa. Der Fahrer flüchtete und wurde nie gefunden. Sofort machten Gerüchte die Runde, Isa sei von Schergen des ruchlosen Aga Khan aus dem Weg geräumt worden. Ruhollah erkundigte sich erschüttert bei der Polizei und bot an, sich um die Beerdigung des Alleinstehenden zu kümmern.
Doch auch dazu kam es nicht. Ruhollah erfuhr, Isas sterbliche Überreste seien wie viele andere aus dem Leichenschauhaus verschwunden. Heimlich entwendet von einer Bande, die Leichen zur Sektion an Krankenhäuser verschob. Verzweifelt eilte Ruhollah zu Isas Pension, um wenigstens nach Angehörigen zu forschen, die er verständigen konnte.
In einer Schublade von Isas Zimmer fand er auf der Suche nach einem Namen oder einer Adresse die Abstammungsurkunden und das Pergament sowie eine Übersetzung. »Dereinst«, las er, »wird