Ricarda Harms-Otte war trotz ihres Doppelnamens nie verheiratet gewesen. Ihre Eltern gaben ihr den Namen mit auf den Lebensweg, mit dem sie in der Schule oft gehänselt worden war, indem ihr Name einfach in ‚Ricarda die Motte’ umgetauft worden war. Zuerst hatte es sie gestört und sie hatte sich mit überlegten Gegenhandlungen mit Namensverballhornungen der Mitschüler gewehrt. Aber irgendwann war es ihr zu dumm geworden und sie hatte nichts mehr gesagt.
Um drei Uhr klingelte heute in der Früh ihr Wecker. Der Regen tropfte leise mit monotoner Regelmäßigkeit auf das Vordach und alle paar Minuten, wenn sich in der Dachrinne durch Blätteransammlungen genügend Regen den Weg frei bahnte, kamen im kurzen Stakkato dicke Tropfen hinterher. Es war so, als würden nervöse Finger auf ein Blech trommeln, um für ein zeitiges Aufstehen zu sorgen.
Der Kaffeeautomat war von ihr schon grundsätzlich seit Jahren immer am Vorabend auf zwei Uhr in der Nacht programmiert worden, damit sich das Aufstehen durch den guten Kaffeeduft lohnen sollte. Ricarda hatte einmal in einer Zeitschrift im Wartezimmer ihres Hausarztes gelesen, dass sich mehr einsame Menschen als man dachte, am Morgen den Kaffeeautomaten programmierten, um vorzutäuschen, der Partner wäre schon aufgestanden, um das Frühstück zu richten. Ricarda konnte leicht nachvollziehen, dass Einsamkeit weh tun konnte.
„Jetzt aber aus dem Bett, die Kunden wollen neue Ware! Los Ricarda, hopp, hopp!“ In dieser abgewandelten Form und in Anlehnung an ihre Mutter motivierte sie sich. Ihre Mutter hatte dabei immer sehr laut in die Hände geklatscht, damit Ricarda pünktlich zur Schule kam.
Eine dreiviertel Stunde später stand Ricarda wie ungezählte Male vor dem Blumengroßmarkt in Emden. Es wurde immer schlimmer einen Parkplatz zu finden. Sie wollte immer am liebsten direkt am Ausgang parken, damit sie den Karren voller Ware schnell einladen konnte. Der Marktleiter kam zufällig vorbei und hatte für die Kunden immer ein freundliches Wort übrig. Ricarda hatte sich schon am Abend vor den Zwanzig-Uhr-Nachrichten angewöhnt, einen Zettel für den Großmarkt zu schreiben. Sie achtete immer darauf, was die Kundschaft in der laufenden Woche nachgefragt hatte.
Ihren Karren mit der weißen Nummer dreiunddreißig schob sie in Richtung der Friedhofsgestecke, denn diese waren jetzt im November gefragt. Es war noch nicht richtig viel los im Großmarkt, aber so langsam füllte er sich mit den Händlern. Die Ware mit neuen, frischen Blumen in Kübeln und großen Verpackungen wurde durch die Gänge geschoben. Gabelstapler mit aufgetürmten Kisten und kleinen Anhängern dahinter suchten sich den Weg zu den Ständen. Ricarda war wie immer von dem Anblick im Großmarkt fasziniert und versuchte sich gerade an der Kreuzung zu den Stauden und Kleingewächsen für den Garten zu orientieren, als ein kurzes Geräusch ertönte, das hier nicht hingehörte.
Das gedämpfte Plopp, Plopp hörte niemand. Ricarda fiel nach hinten, ein Schuss traf sie direkt am Jochbein und einer unterhalb der Nase an der Oberlippe. Die Wucht der Projektile rissen ihr förmlich die Füße weg. Ihr Bestellzettel segelte langsam zu Boden, wo sich Ricardas Leiche schon befand, der Kopf voller Blut. Ihre Beine und Arme waren bizarr verrenkt, ein Bein lag völlig unter ihrem Körper verdreht. Der nette Marktleiter von eben war der erste, der den Vorfall bemerkte und sein Funkgerät aus der Tasche zog, während er sich zu Ricarda hinunter bückte.
Die Kommissarin Mareke Menke stand übermüdet von einem Urlaubsrückflug vor der Leiche. Sie hatte dummerweise ihren Urlaub bis zum letzten Tag ausgedehnt und gedacht, dass sie aufgrund ihrer Jugend das nächtliche Fliegen gut wegstecken konnte. Weit gefehlt, der Urlaub in Mexiko war aufregend, doch sehr anstrengend gewesen. Sie hatte sich mit der Lösung des letzten Falles weder im privaten noch im dienstlichen Bereich nur Freunde geschaffen. Im Präsidium wurde sie geschnitten und der des Mordes an der Schulleiterin überführte Polizeirat Horst Mertens hatte mehr Freunde bei der Polizei, die es immer noch nicht wahrhaben wollten, dass nun der Herr Polizeirat Mertens rechtskräftig verurteilt worden war und seine Jahre im Gefängnis absitzen musste.
Ihre Mutter hatte sich von ihrem Vater scheiden lassen, das Hotel auf Baltrum war verkauft worden und aus dem Tonfall am Telefon mit ihrer Mutter schloss sie, dass man Mareke wohl die Schuld am Scheitern der Ehe gab. Mareke ärgerte sich, hätte sie bloß ihrer Mutter nichts davon erzählt, dass ihr Mann in dem dubiosen Chatraum unterwegs war. Ja, es hatte einen Moment gegeben, wo Mareke ihren Vater für den Mörder an Helene Zimmersohn gehalten hatte. Es waren aber nur Gedankenspiele gewesen und dafür sollte man sich selber nicht abstrafen. Das Leben konnte schon sehr merkwürdige Kapriolen mit einem veranstalten.
Der Arzt hatte die Leiche von Ricarda Harms-Otte untersucht. In ihrer Schürzentasche hatte man einen Brief gefunden, der offensichtlich von einem Stalker der hartnäckigen Sorte verfasst worden war. Darin hatte er seine Liebe zu Ricarda erklärt, die anscheinend schon Jahrzehnte dauerte. Also sagte Mareke mit einem Kopfbrummen des Jetlags zu ihrer Assistentin, sie solle in der neugegründeten Sonderkommission ‚Blumenmarkt’ die bereits bewährten Kollegen zusammen holen und in der Richtung eines älteren Stalkers ermitteln. Es könnte gut und gerne ein alter Bekannter der Polizei sein.
Mareke hatte sich schon beim Betreten der Blumenhalle für diesen SOKO-Namen entschieden und wollte sich dafür die Genehmigung der neuen Polizeirätin Frau Jelte Oltmanns holen. Die Polizeipräsidentin Frau Helma Kaufmann wollte sie damit nicht behelligen. Alles lief eingespielt, wortlos und ohne Arbeitsfreude ab. Mareke nahm sich vor, sich bei einem langen Spaziergang alleine über ihren weiteren Berufsweg klar zu werden. Die feindliche Stimmung hier im Polizeipräsidium Emden würde sie auf Dauer nicht durchhalten. Sie war der Meinung, ihre Arbeit bisher gut zu gemacht zu haben, die Straftäter suchte sie sich schließlich nicht selber aus. Wenn ein Polizeirat ein Verbrechen beging, war dieser für sie nichts anderes als ein Straftäter. Denn vor dem Gesetz waren schließlich alle gleich. Sie würde genau so gegen den Präsidenten des Landgerichtes Aurich vorgehen, wenn dieser strafrechtlich in Erscheinung treten würde.
Mit diesem Rechtsverständnis war sie zur Polizei gegangen und zum Glück unterstützte sie die Staatsanwaltschaft Emden in ihrer Auffassung. Das hatte ihr in einem Gespräch der Oberstaatsanwalt Dominic Großerjahn gesagt, worüber Mareke sehr froh war. Er hatte ihr auch zugesagt einzugreifen, falls das Mobbing unter den Kollegen bei ihr zu einer Belastung wurde. Und das war es geworden, weswegen sie außerplanmäßig Urlaub genommen und sich eine teure Reise nach Mexiko gegönnt hatte, ein heimlicher Traum. Man braucht im Leben immer eine Liane, an der man in Gedanken dahin schwingen konnte, dahin, wo es einem Freude machte. So hatte man Kraft, schwere Dinge im Leben zu überstehen. Das konnte ein Hobby sein, ferne Länder oder ein neues Auto, das man in Gedanken schon einmal fahren möchte. Hoffnung und Vorfreude sind die größten Verhinderer, dass man in Depressionen versinkt, sich aufgibt und mit schlechter Laune durchs Leben geht. Das zerrt nur am eigenen Lebensgerüst, macht alt, krank und lässt einen schließlich verzweifeln. Weitere Vorstellungen in dieser Richtung verweigerte Mareke sich gegenüber.
Die Spurensicherung arbeitete schnell und wortkarg, das hatte aber nichts mit Mareke zu tun. Die Kollegen der Spusi redeten nie viel. Der Bestatter Ingo Harms, mit der Toten nicht verwandt oder verschwägert, zog sich in seiner Nervosität mehrfach die Handschuhe an und wieder aus. Er räusperte sich schließlich und trat von einem Fuß auf den anderen, er wusste nicht, wie er sich bemerkbar machen sollte, denn er hatte noch einen dringenden Abholtermin in einem Altenstift. Er sagte zu seinem Assistenten: „Tagelang ist nichts und dann drubbelt sich alles. Es ist zum Mäusemelken und am späten Abend muss ich mir das Gemecker meiner Frau anhören, dass ich heute und wieder ausgerechnet an ihrem Geburtstag mit Leichen zu tun habe. Als würde ich das extra machen, um sie zu ärgern. Dabei müsste sie doch als Tochter eines Bestatters aus Oldenburg wissen, wie es in unserem Beruf zugeht.“
Der Mitarbeiter sagte wohl mehr, um die Zeit zu überbrücken: „Kannten Sie die Blumenfrau Harms-Otte?“ Ingo Harms sah ihn von der Seite misstrauisch an, denn er kannte den schwarzen Humor seines Assistenten und fragte sich, welche Breitseite aus dem schwarzen Kabinett nun wohl wieder von ihm abgefeuert werden würde. „Nee, wieso? Es gibt in Ostfriesland viele die Harms heißen,“ sagte Ingo Harms und blickte