Das Fährschiff nach Baltrum hatte eine Stunde Verspätung. Dabei hatte Mareke noch Glück gehabt, denn die Reederei ließ durch einen Aushang die wartenden und frierenden Gäste wissen, dass womöglich wegen aufkommender starker Winde bis auf weiteres die Fahrten zur und von der Insel ausfallen könnten. Am Anlieger sah sie sich um und entdeckte ihre Mutter, die verschüchtert winkte. Mareke bekam einen Schreck, wie klein und in sich gekehrt ihre Mutter durch den ganzen häuslichen Kummer mit ihrem Vater war. Es war auch zum Verzweifeln! Da hatten die beiden es finanziell geschafft, mit ihrem kleinen Hotel auf der Insel Fuß zu fassen und nun höhlte der dauernde Ärger mit ihrem Mann wegen seiner vielen Frauengeschichten die Früchte des Lebens aus. Wie lange ertrug ein Mensch eine solche Schmach? Mareke dachte bei sich, dass es wahrlich kein Wunder war, wenn Menschen eine unbedachte Tat begingen und der Fall bei ihr auf dem Schreibtisch landete. Mareke nahm ihr Gepäck auf und lächelte gequält, als ihre Mutter sie unsicher umarmte. Mareke hätte am liebsten hier am Anlieger laut losgeheult.
Die spätere Begrüßung mit ihrem Vater fiel von seiner Seite herzlicher aus, als sie sich das auf der Fähre vorgestellt hatte. Er war wie immer, ging scherzend über alles hinweg, wischte ihre Kritik an seinem Verhalten seiner Frau gegenüber mit dem Hinweis hinweg, dass sie das gar nichts anginge und plauderte, als wäre alles in bester Ordnung. Ihre Mutter musste wieder in das Hotel zurück und er forderte seine Tochter schließlich auf, Fotos auf ihrer Digitalkamera von ihrer Wohnung in Emden zu zeigen. Mareke hatte dazu aber wenig Lust. Aber da sie ihren quengelnden Vater kannte, gab sie nach und zog ihre Kamera aus dem Rollkoffer. Sie klickte die Fotos an, zeigte das erste Bild ihrem Vater, der die Brille auf die Stirn schob und sie spürte, wie er erstarrte.
„Wo hast du das Bild her?“ Mareke verstand erst nicht, blickte dann auf die Kamera und sah das Foto mit der roten Perücke. Ihr Vater war kreidebleich und Mareke konnte als Tochter und Polizeibeamtin schnell eins und eins zusammenzählen. „Kennst du etwa diese Person?“ Ihr Vater druckste herum, doch der Blick seiner Tochter verhieß nichts Gutes. „Papa, das Bild dürfte ich dir gar nicht zeigen, ich wollte meine Wohnungsbilder anklicken. Das Foto mit der roten Perücke zeigt eine Person, die wir vom Namen zwar kennen, aber die ein zweites Leben gehabt zu haben scheint.“ Ihr Vater blickte sie entsetzt an: „Gehabt? Wieso gehabt? Und was für ein zweites Leben?“ Mareke beobachtete ihren Vater und ertappte sich dabei, ihn nicht als solchen, sondern als einen Verdächtigen zu behandeln. „Ja, diese Frau fanden wir tot mit einem Messer im Rücken und mit den Füßen im Ewigen Meer.“
Ihr Vater sprang hoch und suchte die Toilette auf. Ihm war speiübel. Mareke versuchte, ruhig zu bleiben, und überlegte, wie sie vorgehen sollte. Als ihr Vater noch blasser als eben die Toilette verließ, wollte er in das Hotel gehen. Doch Mareke versperrte ihm den Weg: „Was weißt du über diese Dame? Ist sie eine von deinen, sagen wir einmal, Bekanntschaften, mit denen du Mutter den Lebensmut nimmst?“ „Lebensmut? Was für ein Unsinn. Ja, ich kenne sie aus dem Internet, wenn du es genau wissen willst, aus einem Chatraum für Landwirte, aus dem Raum Emden und Aurich. Dort tauchte sie häufig als rote, tabulose Isabell vom Ewigen Meer auf. Ich hatte Kontakt mit ihr, aber nur im Chatraum.“ Mareke konnte kaum glauben, was ihr Vater ihr offenbarte und war froh, dass ihre Mutter nicht anwesend war. „So, so, tabuloser Ferkelraum zum Chatten, nicht nur für Landwirte, sondern auch für Städter, die des Ehelebens überdrüssig sind, wie? Als was hast du dich denn dort angemeldet? Als skrupelloser Hotelier, der einsam ist und gerade dabei ist, seine Ehe und das gemeinsam erbaute Hotel wegen seines zügellosen Lotterlebens aufs Spiel zu setzen?“
Mareke spürte, dass sie nun zu weit gegangen war. Ihr Vater blickte sie traurig an, drehte sich um und verließ den Raum. „Du brauchst gar nicht wegzugehen, wir ermitteln alle, die sich in dem Ferkelbetrieb tummeln.“ Mareke ärgerte sich über sich selber und über diese unbedachte Äußerung und fragte sich, warum sie sich über ihren Vater so echauffierte, obwohl ihre Mutter das Verhalten ihres Mannes einfach tolerieren konnte. Sie blieb noch eine Weile in dem Raum, trat an das Fenster und sah traurig auf die Nordsee. In die sich leicht kräuselnden weißen Schaumkronen sagte sie leise zu sich: „Rote, tabulose Isabell vom Ewigen Meer. Wie kommt eine Schulleiterin bloß zu diesem Schritt im Leben? Wir bekommen Sturm, wenn man die Wellen ansieht.“
Drei Tage nach dem Besuch bei den Eltern saß Mareke wieder am Schreibtisch. Die restliche Zeit dort auf Baltrum waren nichtssagend gewesen, das Problem der Beziehung ihrer Eltern war schließlich ausgeblendet worden, nachdem ihre Mutter sie angiftet hatte, sie solle sich gefälligst um ihre eigenen Probleme kümmern, sie hätte ja keinen Freund und könne da nicht mitreden. Ihre Mutter hatte sie spöttisch angeblickt und gesagt: „Oder habe ich da in dieser Richtung etwas nicht mitbekommen oder fühlst du dich zu Frauen hingezogen?“ Ab diesem Punkt beschloss Mareke, dass das Fass nun voll sei und den Kontakt zu ihren Eltern vorerst auf kleiner Flamme zu kochen. Mareke war wütend, wohl mehr auf sich, denn sie hätte einfach den Mund halten sollen und dieses Gefühl der Ohnmacht beschlich sie auch in den folgenden Tagen.
Gleich am frühen Montagmorgen musste sie zum Rapport zum schlecht gelaunten Polizeirat Mertens, der sich ihren Bericht zum neuen Fall am Ewigen Meer anhörte und knurrte, die Presse würde ihm ständig auf der Matte stehen und die Bevölkerung hätte nun Angst, aus dem Haus zu gehen. Eine Zeitung in Ostfriesland titelte „Massenmörder murkst unbeteiligte Spaziergänger an dem wunderbaren Ewigen Meer ab.“ Eine andere Zeitung verstieg sich auf der Titelseite „Gruseliger Mörder schickt Menschen am Ewigen Meer in die Ewigen Jagdgründe. Wie viele liegen schon auf dem moorigen Grund?“
Herr Mertens hielt die Zeitungen hoch und meinte: „Frau Menke, wenn Sie hier als junge Kollegin im Präsidium Fuß fassen wollen, müssen Sie liefern.“ Das ging Mareke aber doch zu weit und sie meinte: „Herr Polizeirat, wenn Sie der Meinung sind, einen älteren Kollegen oder Kollegin mit dem Fall beauftragen zu wollen, tun Sie das bitte. Lassen Sie mir ansonsten im Fall freie Hand. Und wenn sich Ihr Ton mir gegenüber in Zukunft nicht ändert, werde ich diejenige sein, die sich versetzten lässt. Das wird aber nicht ohne eine ausführliche Begründung meinerseits bei dem Innenministerium geschehen. Schon mein Opa sagte immer, bleibe redlich und fürchte dich nicht vor großen Tieren.“
Sie stand auf und der Herr Polizeirat sah sie verdutzt an: „Schon gut, bitte entschuldigen Sie, ich habe zuhause eine krebskranke Frau, der es sehr schlecht geht. Sie behalten den Fall und ich gebe Ihnen noch einige Beamte in Ihr Team.“ Mareke sah ihn immer noch verärgert an und dachte: „So machen es die Kerle, erst versuchen sie, ihre Macht auszuspielen, um uns Frauen klein zu kriegen und wenn man sich davon nicht einschüchtern lässt, werden sie weinerlich und schieben persönliche Dinge vor. Dieses Verhalten ist in der heutigen Zeit einfach niederträchtig.“
Mareke stand auf und verließ wortlos sein Büro. Einen kurzen Augenblick juckte es ihr in den Fingern, die Tür hinter sich zu zuknallen, sie ließ es aber. Auf der Treppe schlug sie sich anerkennend leicht auf die Schulter. Das Ganze hellte aber ihre Laune nicht auf.
Nun war die Polizeiarbeit des Durchsehens und Ermittelns angesagt. Der Laptop der Frau Zimmersohn gab eine Menge an Namen und Adressen frei. Marekes Vater war auch darunter und sie informierte per Mailnachricht ihren Vorgesetzten Polizeirat Mertens darüber. Mareke dachte, es würde eine Retourkutsche