Mareke sah ihn weiter an und an ihren Augen merkte er, dass sie das mit seiner Homosexualität bereits wusste. „Sie haben aber immer noch nicht meine Frage beantwortet.“ Mareke blieb unerbittlich. Sieghart wurde unsicher und in seinem Innersten spürte er, dass er diese junge Frau unterschätzte. Er nahm einen kleinen Ast und malte wie abwesend in den Sand. „Ja, hatte ich“, knurrte er gepresst. „Sind Sie nun zufrieden?“
Mareke blieb ruhig: „Herr von Drochtersen, ich bin hier, um in einer ungeklärten Todessache zu ermitteln, das ist mein Job, den mir der Staat verliehen hat. Ich bin hier nicht in den Ferien in diesem schönen Hotel. Weiter, was geschah genau in Tokio? Hatten Sie Streit mit Frau Maubach? Und worum ging es?“ In Siegharts Kopf leuchtete langsam eine kleine rote Alarmlampe auf. Es musste sie jemand in der Kaschemme in Tokio beobachtet haben. Er musste aufpassen, keine Fehler zu machen, und es war wohl besser von ihm, darüber ehrlich zu erzählen. „Ja, sie sagte mir, sie wäre schwanger und ich wäre der Vater. Für mich brach eine Welt zusammen, ich fürchtete um meine Reputation, als Dirigent und als Musiker. Ich sah insgeheim schon, wie mein Orchester hinter meinem Rücken sich vor Lachen und Häme ausschütten würde und wie mein Freund in Stuttgart starr vor Schreck vor mir stehen würde, wenn ich ihm reinen Wein einschenken müsste. Mir war, als würde meine Zukunft wie in einem Strudel in den Orkus abwärts gehen, fürchterlich. Meine schwulen Freunde würden, wenn sie mich sehen, die Arme schaukeln, als müssten sie ein Baby wiegen.“
Mareke hörte sich das mit Schaudern an und meinte, also daran dachten die Männer bei der Nachricht einer Schwangerschaft zuerst, wie das wohl von den Mitmenschen aufgenommen werden würde, die Reputation würde leiden. Mareke fing an, für diesen Schwächling Verachtung zu empfinden und musste sich selber zur Ordnung rufen. Sie war nicht hier, um für die Rechte der Frauen einzustehen, denn sie war als Kriminalbeamtin im Dienst. „Wann haben Sie Frau Maubach zuletzt gesehen? Ich meine, nicht als Ihre Musikerin im Orchester.“ Sieghart sah erschöpft und zehn Jahre älter aus: „Am Morgen ihres Todes. Ich frühstückte mit ihr auf meinem Zimmer. Normalerweise frühstücke ich immer alleine. Das mache ich immer so, denn ich kann Menschen nicht immer um mich herum ertragen, ich brauche meine Ruhe, um mich auf ein Konzert vorzubereiten. Ich meditiere gerne. Dazu habe ich leise klassische Musik laufen, nicht von meinem eigenen Orchester, denn ich überprüfe ständig meinen Stil. Ich werde von einem enormen Versagensdruck in meinem Leben begleitet. Ich habe ständig Angst, etwas falsch zu machen.“
Mareke spürte etwas wie Mitleid, aber sie blieb gelassen: „Ist das der Grund warum Sie tablettenabhängig sind?“ Mareke hätte nun gedacht, ihre Frage wäre bei ihm wie ein Donnerhall angekommen, doch der Dirigent schaute sie nur traurig an und zu ihrem Erstaunen nickte er bedächtig mit dem Kopf: „Ja, nach außen hin gebe ich mich immer souverän, tue so, als könnte ich auf meinen Schultern unbegrenzt die Probleme von anderen Menschen tragen, dabei sehne ich mich darum, von anderen einmal lieb in den Arm genommen zu werden. Ich spüre immer mehr, dass ich nicht mehr wie früher immer vorwegmarschieren kann. Ich hätte es auch gerne, wenn mich mal jemand an die Hand nehmen würde und zu mir sagt, das bekommen wir schon hin, fürchte dich nicht, was kommt, ich bin bei dir. Habe keine Zukunftsangst. Alles wird gut, du bist ein guter Dirigent. Die Erfolge beim Publikum geben mir ja sogar Recht. Ich habe aber immer Zweifel und kann mich sogar nach einem gelungenen Konzert nicht entspannt zurücklehnen. Da plane ich schon wieder das nächste Konzert und auch die Reisen bereiten mir immer mehr Plagen. Ich verreise nicht gerne, muss es aber. Dann nehme ich Tabletten und sage mir immer, bald damit aufzuhören. Wenn ich ehrlich zu mir bin, gehöre ich schon seit Jahren in eine Therapie. Ich bin dabei, mich zu zerstören.“
Sieghart konnte nicht mehr weiterreden, er weinte. Mareke konnte weinende Männer nur schwer ertragen. Nicht, dass sie sehr mitleidig wäre oder sie die Einstellung hatte, Männer weinen nicht. Sie hatte ihren Vater auf ihrer Heimatinsel Baltrum selber zu oft weinen sehen. Bei kleinen Schwierigkeiten brach ihr Vater immer gleich in Tränen aus und das empfand sie als Kind schon beängstigend, denn der starke Fels in ihrer Lebensbrandung fehlte ihr. Aber so war es nun einmal.
„Sie sagten eben, Sie hätten mit Frau Maubach gemeinsam auf Ihrem Zimmer gefrühstückt. Ist Ihnen an ihr etwas Ungewöhnliches aufgefallen, war sie depressiv oder aggressiv? Hatte Frau Maubach Ihnen Vorwürfe wegen der Vaterschaft gemacht?“ Sieghart wischte sich mit dem Taschentuch die Tränen ab: „Schlimmer noch. Nein, nichts dergleichen. Sie saß nur da, aß ein Toast und sagte nichts. Sie wirkte wie versteinert, ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll. Sie starrte einfach leer vor sich hin.“ Mareke holte Luft, denn nun kam eine Frage, die es in sich hatte: „Herr von Drochtersen, haben Sie Frau Maubach umgebracht?“ Er blickte sie an, als wäre er noch in Tokio und sie hätte die Frage auf Japanisch gestellt. „Nein, nein“, schrie er hysterisch, „Wie hätte ich das denn machen sollen? Sie ist doch während der Probe plötzlich zusammengesackt und ist gestorben, vor meinen Augen.“
Mareke ging einen Schritt zurück: „Sie hätten den Toast vergiften können. Mit einem Gift, das langsam wirkt und in der Probe, quasi vor den Augen des ganzen Orchesters als Zeugen wäre Ihr Werk vollendet worden.“ Mareke spürte, dass sie zu weit gegangen war. Sie wartete seine Reaktion ab, doch der Maestro wurde ruhiger und schüttelte heftig den Kopf, so, als wollte er sich die Frage aus dem Hirn entfernen. „Nein, ich habe ihr auch keine Medikamente gegeben, Sie können das ja ohnehin von der Gerichtsmedizin leicht überprüfen lassen. Ich bin sicher ein Mensch mit Unzulänglichkeiten, ich bin aber kein Mörder, das können Sie mir glauben.“
Das Handy klingelte und Mareke entfernte sich einige Meter von dem Dirigenten. „Ja bitte, Mareke Menke am Telefon.“ „Hier spricht Holger Schreiber von der Pathologie. Frau Menke, ihre Musikerin, die Flötistin starb an Leichengift.“ Mareke sah sich verblüfft um und fing den fragenden Blick des Dirigenten auf, als der Pathologe weitererzählte: „Ja, Leichengift. Die Gute war schwanger, doch der Fötus war abgestorben und vergiftete Frau Maubach. Sie muss schon in den letzten Wochen keine Bewegungen des Kindes mehr verspürt haben. Dann der Flug nach Japan, der Auftritt und die Rückreise. Sie war damit abgelenkt worden. Wenn sie immer kontinuierlich bei einem Gynäkologen in Behandlung gewesen wäre, hätte der Kollege das rechtzeitig bemerkt. Also, ein natürlicher Exitus der Musikerin.“
Mareke bedankte sich und war verwundert, dass ein Pathologe sich als einen Kollegen eines Gynäkologen bezeichnete. Na ja, sind letzten Endes alles Mediziner. Herr von Drochtersen sah sie an und Mareke wich einen Augenblick seinem Blick aus, dann aber sah sie ihm fest in die Augen. „Bitte entschuldigen Sie meinen Verdacht und meine Fragen, aber ich musste Klarheit haben. Eben rief die Gerichtsmedizin an, Frau Maubach verstarb an dem Leichengift ihres Babys. Der Fötus war schon vor längerer Zeit abgestorben. Mein Beileid.“ Mareke gab ihm die Hand, schaute ihn an und bemerkte, dass sich ihre Augen mit Tränen füllten. Sie wandte sich zum Gehen und wischte sich auf der Treppe des Hotels verstohlen die Tränen mit dem Handrücken ab. Auf dem Parkplatz holte sie tief Luft und sah, dass neben ihrem Dienstfahrzeug und ihrem Fahrer zwei Streifenwagen standen. Die uniformierten Kollegen sahen sie an und der Streifenführer ließ die Scheibe herunter: „Alles klar? Der Dauerdienst hatte uns gebeten, hier auf Sie zu warten.“ Mareke winkte ihnen dankbar zu, es war ein gutes Gefühl zu wissen, dass man nicht alleine war.
2. Geschichte: Die Tote am Ewigen Meer
Das Arbeitspferd Bruno schnaubte und stampfte ungehalten mit der rechten hinteren Hufe auf und sah sich um. Dabei hob und senkte Bruno unwillig den Kopf. Es sollte nun endlich losgehen. Er war schon vor über einer halben Stunde von dem Bauern Jakob Zilligen eingeschirrt worden und wie jeden Morgen kam der Bauer nicht so richtig in Schwung. Schließlich war er, wie so oft, gestern noch spät in seinem Stammkrug hier in Everinghausen gewesen, eine tausend Seelengemeinde am Ewigen Meer, einem Moorsee in Ostfriesland und nun plagte ihn trotz einer großen Kanne Kaffee sein Schädel. Bruno zog den rechten Hinterhuf an und stand so erwartungsvoll auf drei Beinen.
Jakob ging noch einmal