Schmerzphänomene sind deshalb höchst individuell, und insofern auch meist unterschiedlich zu therapieren. So häufig Parallelen der Ursachen zu finden sind – ich habe noch keine zwei identischen Patienten in meiner Praxis gehabt. Von einem weit verbreiteten Denken in „Standardschubladen“ sollte sich die Medizinwissenschaft deshalb besser hüten. Sicher spielen häufig auch psychisch-emotionale Probleme eine Rolle, auf die in diesem Buch nicht tiefer eingegangen werden kann. Doch selbst diese müssen zur Entstehung von chronischem Schmerz nicht zwingend vorhanden sein. Es ist also zu kurz gegriffen, wenn Mediziner ohne Nachweis einer körperlichen Schädigung den Schmerz am Ende als psychisch verursacht (psychosomatisch) ansehen.
Schmerz kann ohne einen körperlichen Schaden, ohne äußerliche Fremdeinwirkung und ohne einen Entzündungsprozess entstehen. Nervenbeeinträchtigungen müssen ebenfalls keine Rolle spielen.Die meisten chronischen Schmerzen fallen in diese Kategorie und werden bislang nicht ursachengerecht therapiert. |
Nutzwert von Schmerz
Es mag erstaunen, doch aus Sicht des Körpers hat Schmerz sicher einen großen Nutzen. Nur so lässt sich erklären, dass im Rahmen der menschlichen Evolution die Schmerzwahrnehmung nicht verschwunden ist. Geschätzte 70 Billionen Körperzellen arbeiten im Körper laufend harmonisch und synchron zusammen. Die Medizinwissenschaft ist derzeit nicht in der Lage, die Steuerung einer solchen Komplexität auch nur annähernd zu erklären. Es ist sicher zu kurz gedacht, wenn nun davon ausgegangen wird, dass bestimmte Schmerzphänomene eine Laune der Natur oder ein Fehler seien. Es gibt einen überaus großen Nutzen von Schmerz, und dieser lässt sich aus der Regulationslogik des Körpers heraus erklären. Bei den nachfolgenden Überlegungen zu einem Erklärungsmodell steht deshalb nicht ein „Fehler“ im System Körper im Vordergrund, sondern die Suche nach der „Sinnhaftigkeit des Schmerzes“ im Rahmen der Regulationslogik für den Betroffenen.
Zur Verdeutlichung des Schmerzphänomens werden an dieser Stelle zwei grundsätzliche Arten von Schmerzen unterschieden. Im Gegensatz zu der Einteilung der Schulmedizin, welche Schmerzen gewöhnlich nach dem Ort des Geschehens einteilt, erfolgt hier eine Differenzierung nach der Sinnhaftigkeit bzw. der Logik des Schmerzes:
1) Akutschmerz / Verletzungsschmerz
Hier handelt es sich um einen Schmerz, der seine Ursache in einer (akuten) Verletzung hat. Hier ist ein echter Schaden am Körper eingetreten. Das kann beispielsweise eine Verbrennung, eine Schnittwunde, oder ein Fremdkörper sein. Die Ursache des Schmerzes ist ein von außen zugefügtes Ereignis. Genau in diesem Fall ist es sinnvoll, dass das Bewusstsein über eine Empfindung direkt am Schmerzort mitteilt, an welcher Stelle genau es ein Problem gibt. Der Betroffene kann anschließend bewusst eine logisch-rationale Handlung dagegen unternehmen, wie einen Splitter zu entfernen oder einen Arzt aufzusuchen, der beispielsweise eine Wundverletzung nähen kann. Dies dürfte die Art von Schmerz sein, mit der ein Kind im Leben als Erstes konfrontiert wird.
Menschen neigen (vermutlich aufgrund dieser Kindheitserfahrung) auf der logischen Ebene oft vorschnell dazu, bei Schmerzen vom Zusammenhang „Schädigung oder Verletzung macht Schmerz“ auszugehen. Dieser Hintergrund könnte auch die Ursache sein, warum die Mehrzahl der Medizinwissenschaftler ihre derzeitigen Erklärungsmodelle zum Thema Schmerz darauf aufbauen. Die logische Folge ist, dass die meisten Schmerztherapien auf diesen Ursache-/Wirkungszusammenhang abgestellt werden. Behandlungen finden so vorzugsweise direkt am Ort des Schmerzgeschehens statt.
Nur ein kleiner Anteil von chronischen Schmerzpatienten ist mit dieser ersten Art von Schmerz konfrontiert – bei der primär eine äußerliche Ursache vorliegt. Es handelt sich hier in der Mehrzahl um Akutereignisse im Rahmen von Verletzungen. Ein Schädigungs-/Verletzungsschmerz kann auch auftreten, falls innere Erkrankungen bestehen. In diesem Fall ist die jeweilige Erkrankungsstelle mit dem Ort des Schmerzes ebenfalls identisch. Das Bewusstsein wird durch Gewebshormone, die beispielsweise bei einer Entzündung am Problemort ausgeschüttet werden, über den Krankheitszustand informiert und reagiert mit der Projektion eines Schmerzes auf die jeweilige Körperregion. Die Veränderung von elektrischen Potentialen in zerstörten Zellen und die Weiterleitung dieser Informationen über Nervenbahnen sind weitere Erklärungen für das Auftreten eines Schmerzes dieser Art.
Sinn dieser Schmerzart ist es grundsätzlich, den Betroffenen auf eine Gefahr, eine innere Erkrankung oder eine Verletzung aufmerksam zu machen und gegebenenfalls die Immunabwehr und Reparaturmechanismen in Gang zu bringen. Die Situation erschließt sich dem Menschen meist sofort logisch-rational und bringt ihn dazu, beispielsweise ärztliche Diagnostik einzusetzen, um die Schmerzstelle genauer zu untersuchen.
Wie kann der Körper das Ausmaß einer verletzungsbedingten Schädigung abschätzen?
Der Körper verfügt über Dehnungsrezeptoren in den Muskeln und Sehnen. Je mehr eine Muskelstruktur „aufgebläht“ wird, beispielsweise bei einer verletzungsbedingten Prellung mit einem nachfolgenden Ödem, umso stärker werden diese Rezeptoren auseinander gezogen. In Verbindung mit zusätzlichen Sensoren in den Gelenken hat der Körper hiermit ein perfektes System zur Eigenwahrnehmung, um die Größe eines Problems zu interpretieren. Dieses Körperempfinden, auch Tiefensensibilität genannt, wird zuweilen als der sechste Sinn eines Menschen bezeichnet. Tritt beispielsweise durch eine Akutverletzung eine Raumforderung (Bluterguss, Ödem …) ein, wird ein bestimmter Schwellenwert der Gewebeausdehnung überschritten. Diese Informationen werden über die Nervenbahnen weitergeleitet. Aus den ankommenden Daten kann das (Unter-)Bewusstsein so automatisch Umfang und den genauen Ort einer Schwellung ermitteln. Es wird dann, falls alle Daten auf eine Verletzung hindeuten, mit der Einleitung entsprechender Heilungsprozesse gegensteuern und kann auch mit Schmerz reagieren, wenn dies individuell sinnvoll erscheint.
Insgesamt verfügt der Körper über ein perfektes System, mit dem Störungen in Art und Umfang wahrgenommen werden. Im Rahmen der anschließenden Regeneration sind zusätzlich viele andere Mechanismen beteiligt, insbesondere elektro-magnetische Feldeinflüsse. Die meisten dieser Prozesse sind noch wenig erforscht. Deshalb werde ich nicht tiefer darauf eingehen. In der Regel weiß der Körper jedoch selbst sehr genau, wie seine Leistungsfähigkeit wieder optimal hergestellt werden kann.
2) Schmerz zum Schutz des Körpers vor eigener Verletzung (Warnschmerz)
Diese andere Art von Schmerz wird absichtlich vom Bewusstsein selbst hervorgebracht, ohne dass eine äußere Verletzung stattgefunden hat. Ein derartiges Symptom soll auf eine – meist sinnvolle – Weise dem Schutz des Betroffenen dienen. In diesem Fall kann an dem Ort, wo ein Schmerz gespürt wird, ein Problem sein. Es muss aber nicht zwingend ein Schaden, eine Verletzung oder eine innere Erkrankung bestehen. Diese Art von „Warnschmerz“ ist das hauptsächliche Behandlungsfeld der Biokinematik.
Um bei dieser zweiten Art von Schmerz die Ursache herauszufinden, müssen daher die Selbstregulierungsprozesse und die Anpassungsfähigkeit des Körpers tiefer betrachtet werden. Insbesondere bei chronischen Schmerzen ist von dieser Schmerzursache auszugehen. Von den derzeit häufig angewandten, standardisierten Schmerztherapieansätzen der klassischen Schulmedizin wird dieser Zusammenhang aus meiner Sicht allerdings bislang grundlegend falsch interpretiert. Für eine zielführende Therapie ist es erforderlich, die Sinnhaftigkeit des (eventuell chronifizierten) Schmerzes ausreichend zu erfassen. Warum bringt das (Unter-)Bewusstsein absichtlich einen bestimmten Schmerzzustand hervor? In der richtigen Beantwortung dieser Frage findet sich der Schlüssel für eine erfolgreiche Schmerzbehandlung.
Sinnhaftigkeit von Schmerz zur Warnung undOptimierung der SelbstheilungEin Kind bricht sich bei einem Unfall den Unterarm. Die Verletzungsstelle schmerzt kurz. Dann tritt durch den Unfallschock häufig eine zeitweilige Schmerzfreiheit ein (diese konnte in früheren Zeiten sinnvoll zur Flucht genutzt werden). Nach Abklingen des Schocks wird neben der Verletzungsstelle meist auch der gesamte Arm inklusive Schulter schmerzen.Der
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