Ohne Vorwarnung schnürte ihr Kristin das Ende eines Seils um die Hüfte.
„Ja, ich weiß “, sagte die Astrophysikerin. „Das brauchst du natürlich nicht. Du hast mir erzählt, dass du gerne in den Bergen unterwegs bist. Da wird dich das hier wohl nicht wirklich beeindrucken. Das Seil ist nur für mich. Gibt mir einfach ein besseres Gefühl und so.“
Natalie musste lächeln. Dabei hätte sie kein Problem gehabt, zuzugeben, dass sie eine Scheiß-Angst hatte. Dass Kristin ihr aber die Gelegenheit gab, ihr Gesicht zu wahren, war trotzdem ein feiner Zug.
„Danke“, sagte sie leise.
Kristin nickte und drehte sich einer kleinen Leiter mit dünnen Sprossen zu, die an der Außenwand angebracht war und steil etwa zwei Meter weit nach oben führte.
Noch bevor sich Natalie richtig darüber klar werden konnte, wie gefährlich das nun wieder war, hatte Kristin bereits die Hälfte der Leiter geschafft und das Seil spannte sich straff.
„Mist“, stöhnte Natalie und fing nun auch an zu klettern. Vorsichtig erarbeitete sie sich eine Sprosse nach der anderen.
„Alles in Ordnung?“, wollte Kristin wissen.
„Geh bitte weiter!“, antwortete Natalie etwas forscher als geplant. „Lass uns das hinter uns bringen, okay?“
Wieder fluchte sie. Das war wirklich heftig. Ihr Hals pochte schmerzhaft und sie hatte das Gefühl, dass ihr gleich die Luft ausgehen würde. Nach einer gefühlten Ewigkeit spähte sie aber schließlich über die Dachkante. Kristin packte sie vorsichtig und zog sie auf die ebene Fläche.
„Sorry. Der Abstieg ist leichter. Versprochen.“
Natalie atmete tief durch. Mit so viel Aufregung hatte sie nun wirklich nicht gerechnet. Na hoffentlich lohnte sich der Stress, dachte sie und fragte sich einmal mehr, was Kristin die Sterne wohl so Bahnbrechendes erzählt hatten.
„Schau dir den Himmel an, Natalie!“, sagte die Astrophysikerin euphorisch, als sie schließlich etwa die Mitte des Dachs erreicht und sich auf zwei Kissen gesetzt hatten, die dort überraschenderweise bereits positioniert waren. Nichts, aber auch gar nichts störte den Blick ins All. Kein Gebäude, keine Bäume, kein Lichtsmog, keine Wolken. Das Firmament spannte sich wie ein Netz aus Abertausenden Lichtpunkte über sie. So klar und hell war jeder Einzelne, dass es Natalie beinahe unecht vorkam. Sofort verlangsamte sich ihr Puls und sie spürte so etwas wie Geborgenheit. Als würde der Himmel in diesem Moment nur ihr alleine gehören.
„Kennst du dich ein bisschen mit Sternbildern aus?“, fragte Kristin.
„Nicht wirklich“, antwortete Natalie.“ Den großen Wagen kenn ich natürlich. Und Cassiopeia. Dann hört es aber auch schon auf.“
„Kannst du mir sie zeigen?“
Ein kleiner Test also, vermutete Natalie. Das war einfach. Als Kind hatte sie sich die gängigsten Sternbilder von ihrem Vater oft genug zeigen lassen. Wahrscheinlich würde sie sogar auch noch den Löwen und Orion finden.
Sie suchte nach vertrauten Konstellationen. Eine besonders helle und lange Sternschnuppe huschte über den Himmel und lenkte sie für einen Augenblick ab. Sie versuchte, sich zu konzentrieren.
Aber, so sehr sie sich auch bemühte, sie fand die Sternbilder nicht. Den Großen Wagen, den Polarstern. Wenigstens die musste sie doch erkennen. Oder ging das vielleicht deshalb nicht, weil sie auf der Südhalbkugel waren? Dann eben das Kreuz des Südens. In Neuseeland war sie oft mit Ben auf der Wiese vor ihrer Hütte in Squirrels Burrow gelegen und hatten den Sternenhimmel beobachtet. Wenn man wusste, wonach man suchen musste, war das Kreuz des Südens ziemlich leicht zu finden. Aber auch hier: Fehlanzeige.
„Entweder stelle ich mich gerade selten doof an ...“, sagte Natalie und ließ Kristin ihren Satz bereitwillig vollenden.
„... oder es gibt hier keine Sternbilder, die wir kennen.“
Pause. Kristin machte große Augen und lächelte dabei versonnen. Wie eben jemand, der mehr wusste als der andere.
„Erklär’s mir!“, forderte Natalie.
„Die einfachste und naheliegendste Erklärung ist: Wir sind hier nicht auf der Erde.“
Natalie seufzte.
„Natürlich. Du hast recht. Das hier ist die Anderswelt. Wie der Name vermuten lässt, ist hier alles anders. Der Mond sieht anders aus, die Sonne. Warum also nicht auch die Sterne?“
Kristin schüttelte energisch den Kopf.
„Nein, ich glaube, du verstehst mich nicht. Das hier ist nicht die Erde! Wir sind auf einem fremden Planeten.“
Natalie sah ihre neue Freundin an, als hätte sich die gerade eine besonders alberne Pappnase aufgesetzt. Denn das war ja nun wirklich schräg.
„Kein Schattenreich in einer anderen Dimension?“, hakte sie nach.
„Was soll das sein, eine andere Dimension? Es gibt die drei gängigen: vorwärts, rückwärts, nach links und rechts und nach oben und unten. Als vierte Dimension wird gerne die Zeit bezeichnet, bei der wir uns aber nur in eine Richtung bewegen können. Selbst wenn es noch eine fünfte geben sollte, die wir nicht kennen: Sie ist dann kein Ort, sondern eine Bewegungsrichtung.“
„Ein Paralleluniversum?“
„Klar. Eine gewagte Theorie. Der Punkt dabei ist, dass wir - natürlich rein theoretisch - nur die Paralleluniversen erreichen könnten, bei denen die Unterschiede zu unserem Universum minimal sind. Verstehst du?“
„Nein.“
„Naja. Die Theorie geht vereinfacht gesagt davon aus, dass immer dann, wenn sich ein Ereignis in die eine oder andere Richtung entwickeln kann, genau das auch passiert. Die Ereignisstränge trennen sich voneinander. Ein neues Universum entsteht. Beide Universen entwickeln sich in unterschiedliche Richtungen. Bedeutet dann natürlich: Es gibt unendlich viele Universen, so viele, wie es mögliche Entwicklungen gibt. Erwischen wir eines von den Abermillionen Universen, das sich so entwickelt hat, dass Leben auf der Erde völlig unmöglich ist, können wir - nicht mal theoretisch - dorthin, weil wir sofort dort sterben würden. In der Anderswelt aber können wir leben. Sie ähnelt in diesem Punkt unserer Welt sehr. Und trotzdem ist eben auch alles hier anders. Die Kombination ist also: Lebensbedingungen wie auf der Erde, aber sonst komplett verschieden. Die Wahrscheinlichkeit, so ein Paralleluniversum zu finden, ist gleich null. Und damit wären wir wieder bei den Sternen.“
Natalie nickte, obwohl sich ihr Verstand immer noch gegen Kristins Schlüsse wehrte.
„Du hast ja recht: Der Sternenhimmel ist völlig anders als der, den wir kennen. Aber heißt das zwangsläufig, dass wir auf einem fremden Planeten sind?“
Kristin schüttelte den Kopf.
„Er ist zwar einerseits völlig anders. Aber andererseits auch wieder nicht. Wir sind im selben Weltall, vermutlich sogar in derselben Galaxie. Siehst du den Fleck zwischen den drei dicken Sternen? Wenn mich nicht alles täuscht, ist das Andromeda, eine unserer Nachbargalaxien. Sie hat von hier aus in etwa die gleiche Größe, die sie auch von der Erde aus hat. Und dieses helle Band, das sich quer über den Himmel zieht, könnte die Milchstraße sein. Die ist nämlich flach, eine Spiralgalaxie. Steckt man da mittendrin, dann sieht man den Rest der Galaxie genau so, nämlich als milchiges Band.“
„Wow!“ Mehr brachte Natalie nicht heraus. Dass sich der Fantasy-Trip, den sie seit ein paar Jahren erlebte, in einen Science-Fiction verwandeln würde, hatte sie nicht erwartet. Was das bedeutete? Eigentlich erst mal gar nichts. Außer, dass es weitere Rätsel gab. Wie zum Teufel waren sie hierhergekommen? Wie funktionierte das mit den Übergängen? Und wie hatte Geysbin vor Jahrtausenden einen anderen Planeten ausfindig machen und besiedeln können? Das war irre.
„Meinst du, dein Kumpel Maus kann mir ein Teleskop beschaffen? Und ein solarbetriebenes Notebook mit Spezialsoftware? Dann kann ich dir bald genauer sagen, wo wir hier sind.“
Sie atmete einmal