Gesprengter Horizont. Matthias Nelke. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Matthias Nelke
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783752916461
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Was ist mit mir? Letzten Sommer warst du über­haupt nicht da und nächstes Jahr...« Moritz atmete tief ein, doch es wollte ihn nicht beruhigen. »Das beste ist, ich weiß, dass du es nicht hasst. Du hasst das Ganze nicht. Du—«

      Moritz T-Shirt klebte an ihm, an Brust und Rücken. Es war heiß. So schweineheiß! Seit sie in Madrid angekommen waren, prügelte die Sonne auf sie herab und genauso lange schon eiferte sein Bruder ihr nach. Moritz fühlte sich ausgewrungen. Als habe er jeden Tropfen Wasser in seinem Körper gegeben.

      »Wenn du so dringend nach Hause willst, warum verpisst du dich dann nicht einfach?« Er schlurfte in den Schatten zurück und ließ sich an der Wand zu Boden rutschen. »Gosejohann hat dich eh schon auf dem Kicker. Frag ihn und der kauft dir ein Ticket.«

      Nach ein paar Augenblicken setzte Jacob sich zu ihm. Lange sag­te er nichts, spielte nur mit den Festival-Bändchen an seinem Hand­gelenk, die längst einen grauen Dreckstreifen hinterlassen hatten.

      »Nur um das klarzustellen: Ich hasse es wirklich«, sagte Jacob.

      »Nein, tust du nicht.«

      »Ich hasse es.«

      »Du hasst es nicht. Sonne, viele Menschen, neue Kulturen — du hasst es nicht. Du willst es hassen, aber du tust es nicht. Als hätte Mama dich zwingen können.«

      »Ehm… hat sie.«

      Etwas, dass ganzen selten passierte, breitete sich zwischen ihnen aus: betretenes Schweigen. Moritz sagte das erste, was ihm einfiel: »Du hasst es nicht.«

      Jacob seufzte. »Aber ich hasse die Messen.«

      »Niemand hat dich gebeten, in ein Kloster einzutreten, Jacob.«

      Moritz drehte den Kopf. Sah die großen, grünen Augen, die sei­nen nicht ähnelten, die vollen Lippen, die seinen nicht ähnelten, die Nase, die seiner nicht ähnelte, und die hohen Wangenknochen, die er nicht hatte; alles umrandet von den dunkelbraunen in stilvoller Unordnung gehaltenen Haaren, weswegen die meisten Menschen sie für Zwillinge hielten und nie auseinanderhalten konnten. Zu­mindest bevor sich Jacob während seines Auslandsjahres in Costa Rica ein polynesisches Muster über den kompletten rechten Ober­arm hatte tätowieren lassen. Sähen die Menschen statt der Haare, was darunter lag, würden sie schwören, sie irrten sich. Wie jedes Mal, wenn Moritz das dachte, musste er lächeln.

      »Wer hat angefangen?«, fragte Moritz. Er wusste nur zu gut, wer die Prügelei angezettelt hatte.

      »Wer wohl?«, antwortete Jacob und schleuderte einen Holzsplit­ter, den er auf dem Boden gefunden hatte, in die Sonne.

      Moritz schnaubte. »Was ne Bitch.«

      »Das Traurige ist, André ist eigentlich ein korrekter Typ. Aber sie...« Jacob schleuderte noch einen Splitter. Fester. Moritz sah ihm neidvoll nach. »Fuck, die Alte ist echt zum Kotzen. Wie ist der an die geraten? Ich raff's nicht. Beim besten Willen, ich raff's nicht.«

      »Was war's diesmal?«

      »Ach, was schon?«, prustete Jacob. »Hab ihm gesagt, dass seine Alte ne unerträgliche Hexe ist.«

      »Du hast echt Hexe gesagt?«

      »Ich paraphrasiere.«

      »Stilvoll.«

      »Wollte die natürlich nicht auf sich sitzen lassen. Guckt André so an. Ob er dass einfach zulasse würde, dass ich sie so beleidigen.«

      Ab dem Punkt wusste Moritz, wie es abgelaufen war. Er musste lachen. Er konnte Jacob nicht einmal böse sein. Sein Bruder hatte ge­tan, was in seiner Natur lag. Was er immer tat. Provozieren.

      »Er hat dich gebeten, sich zu entschuldigen«, riet Moritz.

      »Jap. Und du kennst mich.«

      »Hast ihm angeboten, es zu klären.«

      »Bin ja kein Unmensch.«

      »Hätte sogar noch was fürs Leben gelernt.«

      »Oder nicht? Wo leben wir denn, im Mittelalter? Lässt sich von seiner Ollen dazu bringen, sich um ihre Ehre zu prügeln. Lächer­lich. Die ist doch so schlagkräftig, soll sie es selber klären.«

      »Was für ein Feminist du doch bist.«

      Moritz wippte sich außer Reichweite und schlug Jacob so oft mit der Faust auf den tätowierten Oberarm, bis seine Hand wieder taub war. Erfahrungsgemäß geschah das schneller, als dass sich bei Jacob so etwas wie Schmerz einstellte. In ihrer Statur waren die beiden ein ungleiches Paar. Jacobs graues Tanktop spannte sich über seine athletische Statur. Er war einen halben Kopf größer als Moritz und erduldete die Prügel genauso spielerisch, wie er sich von seinem älteren Bruder aus dem Ring hatte schieben lassen, obwohl es ihm ein Leichtes gewesen wäre, sich zu wehren.

      »Du bist so. Ein. Arschloch«, ächzte Moritz unter zusammenge­kniffenen Zähnen. Und damit war alles gesagt. Schweigend blinzel­ten sie in die Sonne, die träge wie sie am Himmel klebte.

      »Wie war deine Nacht im Bus?«, fragte Jacob irgendwann.

      Moritz hatte gerade aufstehen wollen. Jetzt versteifte er. Jacob wusste, dass Moritz nicht neben ihm auf einer Isomatte, sondern in einem der am Rande des Geländes parkenden Reisebusse geschla­fen hatte. Und mit wem. Moritz hatte keine Geheimnisse vor seinem Bruder. Dennoch hatte er gehofft, Jacob würde ihn ohne die Frage gehen lassen. Doch Jacob wusste zu gut, dass Moritz das Thema nie von allein ansprach.

      »Keine Ahnung«, antwortete Moritz. »Gut. Weiß ich noch nicht.«

      »OK.« Jacobs Gesicht sagte, dass er mit so einer Antwort gerech­net hatte. Er wusste, dass er Moritz wieder würde fragen müssen.

      »Keine Ahnung, Mann.« Moritz fuhr sich mit der Hand durchs Gesicht, wie um eine Emotion wegzuwischen, die er dort nicht leiden konnte. Ich sag’s dir schon, wenn ich’s weiß.«

      »OK«, wiederholte Jacob.

      Es hätte Jacob zugestanden, wütender zu sein, wusste Moritz. Er hatte die Predigt seines großen Bruders ertragen wie jede davor, ohne ein einziges Mal darauf hinzuweisen, dass Gosejohann viel schockierter über das wäre, was Moritz so trieb. Doch Jacob brauch­te nichts zu sagen. Er hatte eine Ruhe, die Außenstehende oft glau­ben ließ, dass er der große Bruder war. Moritz hasste es.

      »Mach nicht zu lange«, sagte Moritz und stand auf. »Wir gehen in zehn Minuten, glaub ich.«

      Als er um die Ecke der Turnhalle bog, war Moritz wieder der große Bruder, auch wenn er sich nicht besser fühlte. Jacob versuch­te, den letzten Urlaub, den sie beide womöglich je zusammen ver­bringen würden, mutwillig zu beenden. Wenn Jacob weiter Mess­diener dazu aufstachelte, sich mit ihm zu prügeln, und in den Pau­sen Gras hinter der Turnhalle rauchte, war es nur eine Frage der Zeit, bis er nach Hause geschickt wurde. Egal, was er verdrehte und versprach, er würde es wieder tun. So war Jacob nun mal, immer auf der Suche nach Konfrontation.

      3. Selena Ibañez

      [Vallecas, 10:31]. Nando saß in der Ecke der kleinen, gekachelten Küche, wischte sich Tomaten-Salsa von den Lippen und grinste. Sei­ne Zähne waren soßenrot. Auch sein Atlético-Trikot wies Spuren der Schlacht auf. Irgendwie hatte er es geschafft, nur auf die weißen Streifen zu tropfen. Selena verspürte den Drang, ihm sein Grinsen aus dem Gesicht zu schlagen, doch sie war schon immer jemand ge­wesen, der sich gut unter Kontrolle hatte. Oft wurde ihr das als Un­nahbarkeit ausgelegt. Ob sie denn nicht traurig sei, hatte ihr Vater sie gefragt, als ihre Mutter in einem Loch in der Erde verschwunden war und Selena zu dem ganzen Theater keine einzige Träne beizu­steuern gehabt hatte. Wozu, hatte sie geantwortet. Die beiden rede­ten nicht mehr miteinander.

      Jetzt hätte es Grund genug gegeben, ihren Emotionen nachzuge­ben, doch es gab andere Dinge, die sie davon abhielten. Eines davon watschelte in diesem Moment zu dem Tisch in der Ecke und tät­schelte die Hand ihres Gastes wie die eines Hilfsbedürftigen.

      »Gut? Gut?«

      »Ausgezeichnet!