Madrid ist Madrid ist Madrid ist eine… Stadt?
Manchmal half ihm das, heute nicht. Heute waren die Dinge nicht, was sie vorgaben zu sein. Heute fanden seine vernarbten Fingerkuppen keinen Halt auf der Balustrade des Balkons, und egal wie lange er seine verschwitzen Hände an dem Sandstein rieb, sie blieben feucht.
Allmählich musste er Ybarra anrufen.
Stattdessen ging Vela zurück ins Zimmer, schloss das zeternde Madrid mit den Balkontüren hinter sich aus und setzte sich vor die körnige Kopie, in der das Leben ausschließlich nach seinen Algorithmen ablief. Moderner Designerwahn hatte aus der funktionalen Schreibtischplatte gegenüber dem Bett ein avantgardistisches Ungeheuer mit geschwungenen Kanten gemacht, die verhinderten, dass Vela den Laptop parallel zu ihnen ausrichten konnte. Optisch fügte es sich in das Dekor energischer Kurven und Formen. Selbst dem Spiegel waren die Kanten abgeschlagen worden. Oft flüchtete sich Velas Blick in einen der vier rechten Winkel unter der Decke. Jetzt korrigierte er die Position des Mauspads, sodass es zusammen mit dem Laptop eine geradlinige Allianz gegen die feindselige Schreibtischkante bildete. Ein rechter Winkel war ein rechter Winkel war ein rechter Winkel. Keiner verarschte Mathematik.
Vela zoomte rein. Yellow Submarine. Er könnte im Backend nach der fehlerhaften CMS-Zeile suchen, doch er hatte Angst vor dem, was er finden würde. Dass er es doch selber in den Code—
Vela zoomte raus. Auf seinem Bildschirm lebte das rekonstruierte Madrid wie ein konservierter Modellbau, die Blaupause seines Plans. Emsige Autos wuselten in unendlichen Kolonnen durch die Straßen. Die Gebäude spuckten und verschluckten Bewohner wie digitale Ameisen. Bis ins kleinste Detail hatte er es dem Madrid nachempfunden, das vor seinem Balkon lag. Es fiel Vela schwer, sich einzugestehen, dass die Demenz immer schlimmer wurde. Doch die Hirnbahnen, auf denen seine Schachzüge einmal in Schallgeschwindigkeit transportiert worden waren, verliefen an schlechten Tagen nur noch wie farbige Schnellstraßen auf der Landkarte seines Gedächtnisses; viel zu oft verschwanden sie unter der Erde und nur gestrichelte Linien markierten die Lücken. Sieben Jahre war es jetzt her. Sieben Jahre, seit er es sich eingestehen konnte. Doch das Videospiel vergaß nie. Wenn er seine Festplatte nur regelmäßig mit der seines Laptops abglich, würde er seinen Verstand aufrechterhalten und die Lücken schneller zuschütten, als neue aufreißen konnten.
We all sit in a yellow submarine, yellow submarine…
Wenn er es tatsächlich in den Code geschrieben und programmiert hatte, konnte er sich nicht daran erinnern.
Vela ging ins Bad und öffnete den Spiegelschrank über dem Waschbecken. Die Glasregale waren säuberlich geleert worden. Dafür hatte jemand die Innenseiten der Flügeltüren mit farbigen Post-Its beklebt, links in Cyanblau und rechts in leuchtendem Magenta.
Dein Name ist Saul Vela, stand links auf dem obersten.
Du bist Logistiker für das organisierte Verbrechen.
Du hast keine Familie. Du kommst damit klar.
Er fürchtete nichts mehr als den Tag, an dem er auch das letzte vergaß. Das wäre der Anfang vom Ende. Ab dem Tag bräuchte er nur noch blaue Denkzettel und keine mehr in Magenta.
Du organisierst einen Anschlag auf den Weltjugendtag.
Ankunft des Papstes: 18. August 2011, 17 Uhr
Du kannst Natalie vertrauen.
Den letzten hatte er erst am Abend dazugeklebt. Ybarra. Atocha. 08.30 Uhr.
Der Würgereiz überfiel ihn so plötzlich, wie er es immer tat und ohne sich dafür zu entschuldigen, dass er drei Stunden auf sich hatte warten lassen. Schwäche, die den Körper verlässt. Noch lange nachdem sein Körper den letzten Tropfen Magensäure abgestoßen hatte, blieb Vela vor der Toilettenschüssel sitzen.
Wenn er Ybarra anrief, war der nächste Schritt, das Natalie sich mit ihm am Plaza Mayor traf. Ybarra anzurufen bedeutete, dass es kein Zurück mehr gab. Hatte er die Dinge einmal ins Laufen gebracht, konnte er nur hoffen, dass sein Hirn ihn nicht im Stich ließ. Nicht schon wieder. Doch wenn Vela hörte, wie die Keramik der Kloschüssel ihm seine Atmung zurückspielte, wurde er das Gefühl nicht los, dass etwas nicht stimmte.
2. Die Brüder
[Getafe, 09:50]. Er spürte, dass Jacob in Schwierigkeiten steckte, noch bevor er es hörte. Es war eines jener Dinge, die Moritz nicht erklären konnte. Es war einfach schon immer so gewesen. Für Moritz war da allerdings mehr als nur ein Gefühl: Wenn Jacob in Schwierigkeiten steckte, hatte er sich wahrscheinlich selbstständig und kopfüber hineingestürzt. Auch das war schon immer so gewesen.
Draußen hatte sich eine kleine Traube gebildet. Von der letzten Stufe des parkenden Fernreisebusses, in dem er die Nacht verbracht hatte, konnte Moritz sie sehen. Erschlaffte Menschen standen im Kreis und gafften in die Mitte; nur ab und an wichen ein oder zwei von ihnen zurück, wie aus einem tiefen Schlaf gerissene Touristen, die beim Anblick eines Hahnenkampfes vergessen hatten, für welche der beiden Bestien sie ihren Gewinnschein gelöst hatten. Dazwischen lagen Kubikmeter brütend heiße Luft. Moritz rannte los.
Die Streithähne wälzten sich im Staub, als er ankam. Es waren zwei, was gut war — es waren auch schon mal mehr gewesen. Der kleinere von beiden verlor, auch wenn er davon nichts wusste; gerade erst hatte er sich aus einem vermeintlich unausweichlichen Schwitzkasten gewunden und es noch vor seinem Gegner wieder auf die Beine geschafft, dem er jetzt mit der Schuhsohle trockenen Staub in die Augen fegte. Der Große brauchte lange, um sich wieder aufzurichten. Er ließ sich Zeit. Er lachte dabei. Auch das wusste der Kleinere nicht, denn Jacob lachte in sich hinein.
Als er keine halbe Minute später hinter der Turnhalle an der Wand lehnte und sich das Blut aus dem Mundwinkel wischte, lachte Jacob noch immer. Diesmal laut.
»Was ein Vollidiot! Hast du gesehen? Dachte echt, diesmal könnt er mich drankriegen, der Lutscher.«
Zwei Millionen katholische Jugendliche zwischen 14 und 30 Jahren waren zum Weltjugendtag nach Madrid gekommen. Die Pilger aus dem Erzbistum Köln waren alle in Messe- oder Turnhallen wie dieser im Vorort Getafe untergebracht worden. Es waren über Zehntausend. Doch jetzt war niemand außer ihnen hier. Nachdem Moritz seinen Bruder unter den Armen gepackt und davongestoßen hatte, hatte sich die Traube so schnell zerstreut, wie sie sich gebildet hatte. Jetzt stand Moritz seinem Bruder allein gegenüber und verspürte die dringende Lust, sich selbst mit ihm im Staub zu wälzen. Jacob schien das erst jetzt zu bemerken.
»Was?«
Mitten in sein beschissenes Grinsen…
»Was denn?«, lachte Jacob.
»Was ist eigentlich dein Scheißproblem?«, brüllte Moritz. Jacobs Mund entsprang ein weiteres Kichern. Mit der Mine des Unbesiegbaren, die ihm eigen war, wackelte sein Kopf von links nach rechts, gen Boden und dann wieder zur Seite. »Was ist so schwer daran, sich für zehn Tage einfach mal zusammenzureißen? Ich weiß, das Ganze hier ist dir egal. Ich weiß, du hast keinen Bock, ist nicht zu übersehen. Aber warum kannst du es nicht einfach mal runterschlucken, anstatt es immer wieder allen unter die Nase zu reiben?«
Moritz untermalte jedes Wort damit, mit der flachen Hand gegen die Wand zu schlagen, bis er sie nicht mehr spürte. Jacob sagte nichts. Es gab nichts zu sagen. Er lachte auch nicht mehr. Er stand nur da, lässig gegen die Wand gelehnt, und sah weg. Moritz drehte von der Wand ab. Raus aus dem Schatten, den der Winkel der Sonneneinstrahlung hinter die Turnhalle warf, hinein