Als das Meer sich beruhigte, das Boot lediglich von links nach rechts gestoßen wurde, und er die Schreie wieder klar hören konnte, hob Amadou den Kopf. Auf dem ganzen Deck erhoben sich Männer auf die Knie, klammerten sich wie kleine Kinder an die Reling und würgten Magensäure ins Meer. Doch nirgends der Somali. Nur Amadous Nachbar. Das Meer hatte sie beide in den Tauhaufen gespült. Er gurgelte.
»Amadou…«
Amadou musste ihn auf den Rücken drehen, um zu merken, dass es kein Wasser war. Die Stelle in Lawrence Brust, wo der Dolch des Somali ihn getroffen haben musste, atmete Blut. Mit glasigen Augen träumte er Träume von einem Europa, das nie ferner schien als jetzt.
Amadou konnte nichts sagen. Sein Mund war voller Salz, der allen Speichel zersetzte. Er nahm Lawrence' Hand, die nur noch drei Finger hatte, und drückte sie. Die Stümpfe spuckten Blut.
»Ein Topf voll Gold, was, Amadou?« Lawrence versuchte zu lächeln. Seine Lippen zitterten. Amadou drückte die Hand fester.
»Ein Topf voll Gold«, wiederholte Amadou und weinte. »Zwei.«
Als Lawrence’ Körper sich nicht mehr anstrengte, das Blut aus seinen Lungen zu würgen, wusste Amadou, dass er tot war. Er wollte schreien, wollte wehklagen, wie es in seinem Volk Brauch war, aber er konnte nicht. Zu gerne hätte er gewusst, was Christen tun, wenn ihre Angehörigen sterben. Aber auch das hatte ihm sein Großvater, der alles wusste, nie erzählt. Was, wenn Amadou irgendetwas tun musste, etwas ganz Bestimmtes, um Lawrence in den Himmel zu bringen, etwas, das ein Christ gewusst hätte? Der Gedanke, einen folgenschweren Fehler zu machen, lähmte ihn lange, doch irgendwann war der Drang, etwas tun zu müssen, größer. Amadou schloss Lawrence die Augen.
»Möge die Straße offen für dich sein«, begann er die Weisen seines eigenen Volkes zu murmeln. »Möge unterwegs kein Übel dir begegnen. Und mögest du die Straße gut finden, wenn du in Frieden gehst.«
Er fragte sich, ob sie sich wiedersehen konnten, wenn der eine im Himmel war und der andere in den Immergrünen Landen?
Ein unbehagliches, bauchiges Lachen antwortete und ließ Amadou herumfahren. Es war der Somali — in seiner Hand den Dolch. Er brüllte etwas, einen arabischen Satz, der kein Ende zu haben schien und kam mit balancierenden Schritten vom Bug heran. Auf halbem Weg zu Amadou taumelte ihm der Mali im Dscheballah in den Weg, stolperte, kotzte Salzwasser, dann sein eigenes Blut, als das Messer ihm den Bauch aufgerissen hatte, und wurde letztlich von einem astigen Arm ins Meer gestoßen. Längst machte der Somali keinen Unterschied mehr zwischen Freund und Feind. Er sah nur noch Beute.
Er füttert es, dachte Amadou. Und die Vermutung, die bis jetzt nur eine Wahrscheinlichkeit gewesen war, wuchs in Amadous Kopf zu einer unumstößlichen Absolutheit: Hier wird meine Reise enden. Jetzt werde ich sterben.
1. Spiegelschrank
[16. August 2011, erster Tag]
[t minus 57 Stunden]
[Westin Palace Hotel, 08:33]. Der Mann, den Europol »El Viento« nannte, sah auf die Stadt hinunter, die er in Brand stecken würde. Schon wieder.
Ein weißes Spielzeugauto hatte seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Gerade beobachtete er, wie es in den Kreisverkehr um den Fuente de Neptuno vor seinen Augen einlenkte, die Statue in der Mitte umkurvte, ausscherte und von der äußersten Spur auf die Paseo del Prado nach Norden abbog. Unter den großen Pappeln löste es sich im fransigen Nebel auf, doch vor seinem inneren Auge versuchte el Viento es weiterzuverfolgen. Am Ende der Paseo del Prado lag der Plaza de Cibeles und ein zweiter Kreisverkehr. Von dort konnte das Auto in drei Richtungen fahren. Nach Osten die Calle de Alcalá entlang und über den Puerta del Sol zum königlichen Palast, nach Norden Richtung Chamartín und zur Garage oder nach Westen. Die Calle de Alcalá entlang des Parque del Retiro, Salamanca, Goya, die Vorstadt. Als ein zweites Auto angefahren kam, diesmal ein rotes, wiederholte el Viento die Routine. Danach noch einmal mit einer silbernen Vespa.
Zum Schluss drehte er das Mausrad nach unten und Madrid schrumpfte in weite Ferne.
Vor dem Fenster war die Sonne aufgegangen, um die Stadt einen weiteren Tag zu plagen. Er sah auf die Uhr. Drei Stunden waren verschwunden, seit er sich an den Laptop gesetzt und sich von dem uhrwerkähnlichen Schauspiel seines konstruierten Videospiels hatte hypnotisieren lassen. Er erinnerte sich nicht einmal, dass der Tag angebrochen war. Ob Ybarra schon angekommen war?
Das Klopfen an der Tür hallte so laut durch das Hotelzimmer wie das Hupen eines LKW. El Viento hielt die Luft an. Es klopfte wieder. Menschen, bei denen man dreimal klopfen musste, hatten immer etwas zu verbergen.
Er öffnete die Tür so weit, dass sein Körper das Zimmer verbarg.
»Zimmerservice, Señor Venti.«
Der Mann, der eigentlich Saul Vela hieß, krümmte den Kopf aus der Tür. Draußen hing noch immer das Schild »Bitte nicht stören«.
»Es tut mir leid, Señor.« Gequälte Augen sahen aus einem faltigen Gesicht zu ihm herauf. Mit den Fingern nestelte sie an dem rechteckigen Plastikschild. »Bitte lassen Sie mich es putzen. Fünf Tage. Fünf Tage und das Zimmer wurde nicht gründlich gereinigt.«
»Vier.«
»Perdona me?«
»Vier.« Er war sich sicher. »Tage, meine ich.«
Ihr Gesicht sah plötzlich aus, als würde es von innen ausgepresst. Sie traute sich nicht, ihn zu korrigieren. Ihr Blick fiel auf den Boden. Als sie die Augen hob, versuchte sie unter seinen Armen hindurch zu sehen, wie schlimm es um das Hotelzimmer stand. Sie würde nie wissen, wie sehr ihr Leben auf der Waage lag, jetzt, hier, am vierten Tag auf seiner Zimmerschwelle. Selbst wenn sie alt wurde, heiratete, ein Kind und zwei Enkel bekam, die Welt bereiste und im Lotto gewann, würde dieser Moment derjenige bleiben, in dem sich ihr Leben entschied. Wagte sie einen weiteren Schritt, würde sie sterben. Kam sie zurück, wenn er nicht da war, und öffnete sie den Spiegelschrank im Badezimmer, würde er sie töten müssen. Vela erlaubte nicht, dass Zimmermädchen das Betttuch lüfteten, das ihn zum Geist machte, und die blütenweiße Akte bei Europol erste druckerschwarze Spritzer bekam. So wenig wie er erlaubte, dass Menschen lebten, die ihn identifizieren konnten.
»OK.«
»OK«, antwortete er. »Sie können gehen.«
Als er die Tür schloss, hatte er das Gefühl, jemand sei in seiner Abwesenheit im Hotelzimmer gewesen. Die Balkontür stand offen und jemand hatte Schweißabdrücke auf dem schwarzen Laptop zurückgelassen; die Hitze verschluckte sie langsam. Einer der Straßenläden in betaMadrid hatte in der Zwischenzeit den Besitzer gewechselt. Wo vorher das Schild einer Pension an der Häuserwand gehangen hatte, leuchtete jetzt der Schriftzug: Yellow Submarine Radioshack. Er konnte sich nicht daran erinnern, es in den Code des Spiels geschrieben zu haben. Ein Glitch. Oder hatten seine Finger ihn verraten? Abwechselnd ballte er seine Hände zu Fäusten und streckte dann wieder die Finger. Seine Hände vibrierten. Er erinnerte sich nicht, dass sie das jemals getan hatten.
Wind wehte zur Balkontür herein. Er war warm und feucht und stank nach Kohlenmonoxid. Wie ein aufmüpfiges Kind versuchte der Wind, unter sein in die Hose gestopftes Hemd zu gelangen, tollte erfolglos weiter, einmal durchs aufgeräumte Zimmer und dann wieder hinaus, dass die zarten Gardinen flatterten, um die Kante der Hotelfassade herum und die Carrera de San Jerónimo hinunter. Saul Vela ging auf den Balkon und sah ihm nach. Eine gelbe Fahne mit einer dreizackigen roten Krone darauf flatterte vier Häuserblocks weiter. Vela winkte zurück. Dann wurde es wieder windstill.
Im Kreisverkehr unter ihm hupte ein LKW, wie um ihn zu verspotten. Das Orchester trompetete zurück, alle auf einmal.
Vela kannte jeden Hydranten