Gesprengter Horizont. Matthias Nelke. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Matthias Nelke
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783752916461
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& LAMBERT, Lyndts Team bei Europol

      THOMAS DE JONG, ein Europol-Analytiker

      FRANCISCO „Paco« GARCIA, stellvertretender Polizeichef des Bezirks Madrid Central

      ALVAREZ, Polizeichef des Bezirks Madrid Norte

      DIEGO CABEZÓN, Bürgermeister von Madrid

       Die Übrigen

      AMADOU, ein fliegender Händler und Geflüchteter aus Nigeria

      BARBARA „Barbie« GUTSSON, Hannahs Schwester

      JULIA ROTH, eine deutschstämmige Journalistin

      Innenstadt von Madrid

      Davor

      [irgendwo vor der Küste Gibraltars, 03. Juni 2011]

      Schon lange gab es keinen Horizont mehr. So wie das Meer brüll­te und die Männer beteten, fragte Amadou sich, ob das Ende ge­kommen sei.

      Unter dem Donner der Wellen war der Fischerkahn voll fremder Stimmen. Einige der Männer falteten die Hände und sahen gen Himmel. Die meisten warfen sich auf den Boden. Wieder sprach die nasse Naturgewalt und krachte über ihnen ein. Kongolesische Mi­nenarbeiter, kamerunische Hirsebauern, Fischer aus Guinea purzel­ten übereinander wie Spielzeug. Dann flehten sie wieder. Einige zu Gott. Die meisten zu Allah.

      Amadou hatte den Unterschied nie verstanden. Selbst sein Groß­vater, der alles wusste, hatte ihm das mit den Göttern nie erklären können. Sollte der Sturm sie verschonen, würde niemand sagen können, wem sie ihr Leben zu verdanken hätten. Dort, wo Amadou herkam, war der Himmel der Himmel, die Berge waren die Berge und das Meer war das Meer. Während die anderen Männer ihre Götter anflehten, die Amadou nirgends sehen konnte, tat er, was ihm das einzig Sinnvolle schien. Er bat das Meer, sich zu beruhigen.

      Um zehn Minuten vor Mitternacht ging der erste Mann über Bord. Sein Gott hatte ihn wohl nicht gehört. Das Meer übertönte und übertürmte alles. Es rülpste und verschluckte den Überbordge­gangenen so leicht, wie das Platschen, mit dem er aufs Wasser schlug, und das Gurgeln in seiner durchgeschnittenen Kehle.

      Um Mitternacht waren ihm acht Männer und zwei Frauen ge­folgt. Als Amadou an der Reihe war, färbte Blut das Stahldeck, auf dem er kniete, bereits violett. Welle um Welle schlug aufs Deck und leckte über den Kahn, doch das Blut wusch immer wieder zurück.

      Du, fragte der Dolch in der Hand des Somali, als er ihn in Ama­dous Gesicht steckte.

      »Amadou«, antwortete Amadou.

      »Amadou«, kostete der Somali die Silben aus.

      Ein Blitz spaltete den schwarzen Himmel. Für den Bruchteil einer Sekunde ließ das Gleißen die einschüchternde Gestalt weiß hervor­treten. Die Narbe auf seiner linken Wange leuchtete im Einklang mit seinen großen Zähnen. Ein Lächeln, das verriet, dass er Ama­dous Reaktion bereits kannte, und jede, die darauf folgen würde. Es blitzte wie der Dolch in seiner Hand. Wie alle durchgeschnittenen Kehlen vor ihm sagte Amadou, dass er nur Allah diene. Das Lä­cheln des Somali wurde breiter. Er raunte etwas auf Arabisch.

      Amadou verstand kein Arabisch. Das Wort des Hünen hörte sich so feindselig an, wie jedes andere Wort, das er hätte sagen können. Vielleicht war es auch der Dolch. Amadou zögerte keine Sekunde länger, den Satz hinauszuschreien, den er in seinem Kopf aufsagte, seit ihn der Mali in der weißen Dscheballah fünf durchgeschnittene Kehlen vorher gegen sein Leben eingetauscht hatte. Vom arabischen »Ich bezeuge, dass es keine Gottheit außer Allah gibt und das Mo­hammed der Gesandte Gottes ist«, von dem Amadou kein Wort verstand, blieb nicht viel übrig, um es als das islamische Glaubens­bekenntnis zu identifizieren, das es war.

      Der Somali war in die Knie gegangen. Die Hand, die das Messer hielt, baumelte jetzt lässig von seinem massiven Oberschenkel. Trotzdem sah er noch immer auf Amadou herab. Jetzt bohrend. Sagte etwas auf arabisch. Jetzt lächelnd. Amadou hörte seine Stim­me am Satzende hochgehen — eine Frage! Nur er verstand sie nicht.

      Zum ersten Mal seit Beginn seiner Flucht schlich sich der Gedan­ke in Amadous Kopf, dass er mit großer Wahrscheinlichkeit sterben würde. Um sein Leben hatte er schon oft gefürchtet — davor noch mehr als danach. Dazwischen lag die Wand aus schwarzem Qualm. Benzin und Vergessen. Nur deshalb war er geflohen, weil sein Le­ben sich im Ungleichgewicht von Davor und Danach erschöpfte und er ins Davor eben nicht zurück konnte. Das war die Natur des Krie­ges, sagte sein Großvater, der alles gewusst hatte. In den Stamm der Geschichte schlägt er eine Kerbe, doch das Holz, aus dem wir ge­schnitzt sind, schlägt er entzwei.

      In Agadez hatte Amadou in den Minen geschuftet, um Geld für die Reise ans Meer zu verdienen. In fahlem Kunstlicht und ver­strahltem Staub hatte er sich die Hände blutig geschürft für die Stei­ne, mit denen die Weißen ihre Raketen bestückten: Uran. Ein halbes Jahr lang, für einen Schlafplatz am Stadtrand und einen Stehplatz auf einem Laster nach Norden. In einem dreißig Jahre alten Merce­des-Transporter waren er und dreißig andere schließlich nach Alge­rien aufgebrochen. Die erste Straßensperre forderte ein Zehntel von Amadous Erspartem. Die Männer wedelten mit Messern, und er be­zahlte. Dann kamen die Polizisten, die Zollbeamten und schließlich die Schleuser. Amadou bezahlte sie alle. Kurz vor Tamanrasset war nur noch die Hälfte seines Geldes übrig. Kurz nach Tamanrasset ka­men die Banditen, wedelten mit Bajonetten an russischen Kalaschni­kows und nahmen den Rest. Ein Leben später saßen er und ein Ni­gerianer namens Lawrence an einem marokkanischen Strand und beobachteten, wie das Meer tote Männer anspülte, mit denen sie tags zuvor noch ein Boot nach Melilla bestiegen hatten, ehe sie bei­de nach einer Viertelstunde vom tosenden Meer über die Reling ge­worfen und an Strand gespült worden waren. Die gebrochene Hülle des Bootes folgte zwei Tage später. Amadou hatte jedes Mal ge­fürchtet zu sterben. Doch bis zu diesem Moment, da der breitschult­rige Somali jetzt mit dem Dolch unter seiner Kehle wedelte, hatte es ihn nie mit solcher Gewalt getroffen: Hier würde es zu Ende gehen.

      Der Somali wiederholte die Frage. Er hielt das Messer jetzt waa­gerecht zwischen beiden Händen, ließ es mit der Spitze in seiner Handfläche kreisen, und sah Amadou über die tanzende Klinge hinweg an. Amadous Kehle schnürte sich zu. Es gab keine Antwort, die sein Leben retten konnte.

      Ein Wimmern drang an Amadous Ohr. Der felsige Schädel des Somali wandte sich nach rechts.

      Amadous Nachbar saß auf dem Hosenboden. Die Beine des stot­ternden Häufchen Elends schlotterten so stark, dass seine Knie an­einanderschlugen. Dabei presste es die Augen so fest zusammen, dass Fältchen in den Winkeln hervortraten, und bemerkte deshalb nicht, dass er mit seinen Daumen eine hölzerne Perle nach der an­deren zwischen seinen krampfhaft verzahnten Fingern ins Freie schob, wie die verräterische Blutspur eines pochenden Herzens, das er in seinen Händen zu verbergen versuchte.

      Die Blutlust des Somali sprang von Amadou auf seinen Nach­barn über wie die eines Löwen, der bei der Verfolgung einer ver­letzten Antilope ein Neugeborenes erblickt. Der Dolch sauste durch die Luft, spaltete die gefalteten Hände wie eine Steinfrucht. Heraus fiel der Kern — ein hölzernes Kreuz. Das Häufchen Elend schrie, sein Oberkörper schien jegliches Gleichgewicht zu verlieren und fiel nach vorne. Panische Augen wühlten zwischen den Perlen des Ro­senkranzes, suchten nach dem Kreuz, Hände griffen danach. Doch ohne Daumen und Zeigefinger konnten sie es nicht packen. Die vio­lette Lache wuchs.

      An diesem Punkt brach die Oberfläche weg. Gerade noch war sie da, dann nicht mehr. Amadou spürte wie seine Organe schon der Schwerkraft folgten, während sein Körper noch im Boot saß. Dann kippte es nach vorne. Der Bug pflügte tausend Tonnen Gischt auf, als er auf die Oberfläche schlug. Mit weit aufgerissenem, Salzwasser sabberndem Maul gähnte das Meer ihnen entgegen. Amadou wur­de durch die Luft geschleudert, wusste nicht, ob er Wasser oder Stahl treffen würde, bis er im Tauwerk hängen blieb, das irgendwo