Die ausgelassene Stimmung der vergangenen Nacht schien vergessen, als die Männer rund um Prakh von Wolff, der ernst, aber mit sichtlich stolzgeschwellter Brust über das große Lager seines Volkes blickte, mit einem rituellen Spruch das Zelt betraten. Prakh, auf dessen Boden das Thing abgehalten wurde, begrüßte alle anwesenden Clanführer, an seiner linken Seite Larsso, sein Erstgeborener, an seiner Rechten Urso, Prakhs Stellvertreter.
Das Innere des Thingzeltes war nur mit Fellen bedeckt, und die Männer setzten sich in den Kreis, den Ira ihnen mit den weichen Sitzgelegenheiten eigenhändig ausgelegt hatte.
Prakh ließ den Blick über die Männer gleiten. Es gab Wichtiges zu bereden. Seine Miene wurde ernst, als er seine Rechte hob und sie ausgestreckt langsam von links nach rechts in Augenhöhe durch den Raum gleiten ließ, um das Gemurmel, das im Zelt angesetzt hatte, zum Schweigen zu bringen.
Thorn versuchte, nicht zu niesen. Wie das juckte. Seine Nase kitzelte vom Staub. Hastig rieb er sich durchs Gesicht und hielt den Atem an, bis er rot anlief. Fandor neben ihm kicherte leise und ermahnte ihn dann flüsternd: „Thorn, wenn sie uns hier erwischen, war die ganze Anschleicherei der letzten Stunde für die Fliegen.“
Sie hatten sich äußerst behutsam von hinten an den nunmehr verlassenen Schlafzelten vorbei bis an den Rand des großen Thingzelts herangerobbt, und lagen nun, fast vollkommen mit dem trockenen Staub der Lagerstatt bedeckt, genau unter dem Rand der riesigen Plane, die den Boden nicht ganz erreichte. Leider hatten sie hierfür ihre neuen Schwerter abschnallen müssen, denn zum Kriechen waren sie denkbar ungeeignet.
Der Plan war simpel gewesen, aber sie hatten lange dafür gebraucht ihn auszuführen. Das Lager war voller Menschen, und es war nicht einfach gewesen, einen Moment abzupassen, in dem niemand zu ihnen herüberschaute, und so hatten sie wesentlich mehr Zeit benötigt als angenommen. Das Thing hatte schon vor einer ganzen Weile begonnen.
Thorn ächzte ein wenig, als er versuchte, sein eingeschlafenes linkes Bein ein wenig zu entlasten. Das Anrobben war noch der gemütlichste Teil ihres Unterfangens gewesen. Hier ruhig zu liegen ohne sich viel zu bewegen, wurde von Minute zu Minute schwieriger, denn die Plane setzte nur wenige Fingerbreit über dem Boden an, und sie mussten sich so klein wie möglich machen.
Von drinnen hörten sie ernste Wortfetzen. Alle Clanführer berichteten nacheinander über den Zustand ihrer Stämme, ihrer Familien, ihrer Pferde und der Steppe im Allgemeinen. Es ging um Hochzeiten, Ernten, Berichte durchziehender Gaukler und Handelsmänner, das Wetter und alles, was sich seit dem letzten Thing ereignet hatte. Doch in den letzten Minuten schien das Gespräch eine dramatischere Wendung anzunehmen.
„Scht, sei doch mal still.“ Fandor rempelte Thorn an, der damit beschäftigt gewesen war, eine Saugmücke von seinem Arm zu schlagen.
„Immer mehr von ihnen scheinen unterwegs zu sein. Vor einem Mond haben sie einen meiner Männer getötet, der gerade auf Kundschaftsritt in den südlichen Steppenregionen war“, hörten sie eine kehlige Stimme aus dem Thingzelt.
„Bist du sicher, dass es die schwarzen Reiter waren?“, ließ sich Prakh ernst vernehmen.
„Ja, meine Männer ritten zu zweit aus. Pitar konnte entkommen, weil er gerade ein Guna jagte. Aber als er ans Lager zurückkehrte, fand er Sham tot am Feuer liegend. Man hatte ihm den Schädel gespalten.“
Ein Raunen lief durchs Zelt. Die Jungen hielten den Atem an, und Schauerwellen liefen ohne Ankündigung über ihre Rücken. Fandor schaute erschrocken. Seine Augen weiteten sich wenig hilfreich bei dem Unterfangen, das Gehörte zu verarbeiten.
Sie konnten nicht in das Zelt hineinschauen, denn dafür hing die Plane zu niedrig, aber sie konnten gut hören, wie drinnen der schreckliche Bericht weiter erzählt wurde.
Fandor und Thorn starrten sich an. Dies war ein Spiel für sie gewesen, in das sie ihren ganzen jugendlichen Ehrgeiz gesteckt hatten. Sie wollten insgeheim bei dem Thing dabei sein. Aber sie hatten nicht erwartet, solche Dinge zu hören.
„Pitar stieg auf einen Felsen und sah in einiger Entfernung vier Schwarze nach Osten reiten. Sonst war niemand in der Nähe. Sie müssen die Mörder Shams sein. Auch die Art, wie sie töten, verrät sie“, führte die erste, kehlige Stimme weiter aus.
„Sie benutzen grobe Beile und schlagen ihren Opfern die Köpfe ein“, warf jemand bestätigend ein, und seine Stimme hatte einen aufgeregten heiseren Klang.
„Und das ist nicht der erste Todesfall, den es zu beklagen gibt. Weiter südlich, kurz bevor die Steppe in die langen Treibsande übergeht, lebt ein kleines Volk von Webern, die Usuru. Wir halten losen Kontakt zu ihnen, handeln hin und wieder etwas, wenn wir vorbeikommen. Auch sie haben von neuen Vorstößen der schwarzen Reiter berichtet und von Morden, die auf die gleiche Weise begangen wurden.“
Stille machte sich breit, vereinzelt kamen leise Gespräche mit Sitznachbarn im Zelt in Gang.
„Ruhe, Männer. Lasst Fas weiter erzählen“, schaltete sich Prakh von Wolff wieder ein. „Wir werden alle nacheinander berichten, was es zu diesem Thema zu sagen gibt und dann gemeinsam diskutieren und beratschlagen, wie immer.“
„Hmja“, räusperte sich der, den die Jungen an der seltsam kehligen Stimme nun als Fas erkannten. „Das war eigentlich schon alles. Unruhen im Süden, vereinzelte Morde, immer werden die Schwarzen gesehen, und niemand weiß, was sie hier wollen.“
Kurz wurde es wieder ruhig im Zelt.
„Wie lange ist es eigentlich her, dass schwarze Reiter in unserer Gegend waren?“ fragte einer der Clanführer.
Ein Mann mit einer sehr alten Stimme antwortete nachdenklich: „Mein Altvater erzählte mir so manches Mal davon, wie die Schwarzen über unser Land gefegt sind. Es ist lange her. Das Wenige, das ich von Arlok persönlich weiß, ist, dass unsere Zeitrechnung auf seiner Herrschaftszeit beruht. Niemand weiß, wie alt Arlok wirklich ist, aber wenn die Lieder stimmen...“ Er zögerte.
„Wenn die alten Lieder auch nur annähernd stimmen, so ist Gramlodawik von Arlok schon mindestens sechs Jahrhunderte alt.“ Ein trockener Hustenanfall unterbrach ihn. „Und seine Herrschaft im Süden muss schrecklich sein.“
Fandor wagte kaum zu atmen. Arlok! Wie oft hatten sie ihm als kleinem Kind die schrecklichen Geschichten von Arlok erzählt, seiner barbarischen Herrschaft über die Südlande weit hinter den Treibsanden, von den finsteren Verliesen in seiner Burg, in denen er seine Feinde Jahr um Jahr folterte. Er hatte diese Geschichten immer für Märchen gehalten, um kleine aufsässige Buben etwas gefügiger zu machen, und er hatte sich oft und gerne bei diesen Erzählungen am Lagerfeuer gegruselt. Und nun hörte er, dass es diesen Arlok tatsächlich geben sollte!
Ungläubig schaute er Thorn ins Gesicht, der nur eine Nasenspitze neben ihm im Staub lag. Thorn, das linke Ohr fest an die Plane gepresst, schien gefesselt von dem Gehörten und achtete nicht weiter auf Fandor.
Die Berichte im Thingzelt begannen sich mehr und mehr zu ähneln. Weitere Teilnehmer erzählten von Reiterüberfällen oder auch von fahrenden Händlern, die mit diesen oder ähnlichen Geschichten zu ihnen gekommen waren. Je mehr Clanführer ihre Meldungen machten, desto gedrückter wurde die Stimmung im Zelt.
„Gramlodawik von Arlok“, ließ sich Prakhs Stimme gedehnt und nachdenklich vernehmen. „Arlok“, wiederholte er, und Fandor und Thorn hörten ihn scharf ausatmen, wie er das immer tat, wenn er am Überlegen war. „Was wissen wir eigentlich wirklich von ihm?“
Der Mann mit der alten Stimme hüstelte wieder, bevor er zaghaft zu sprechen ansetzte. „Man sagt, Arlok sei einer der mächtigsten Dämonenmagier, die jemals existiert haben.“ Sein Atem rasselte, als er heftig einatmete, um weiter zu berichten.
„Es gibt ein Lied, das von einem großen magischen Kampf berichtet, der vor Jahrhunderten zwischen Arlok und einigen anderen Dämonenmagiern und auch Elfen stattgefunden haben soll. Arlok der Schreckliche soll aus diesem Kampf, unterstützt von den dunklen Mächten des ewig Bösen, als Sieger hervorgegangen sein.“
Ein