Schattenfrucht. Maren Nordberg. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Maren Nordberg
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783750223639
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Wolkenbruch nur kurz. Der Wind frischte wieder auf. Und richtig, dort auf der verwitterten Mauer, wo sie am Mittag in Ruhe ihre Eintragungen vorgenommen hatte, lag unschuldig der Jutebeutel mit der Pappmappe. Sie griff ihn, gleichzeitig schüttelte eine Sturmböe das ganze Wasser aus der Baumkrone über ihr. Es gelang ihr gerade noch, die kostbare Mappe vor den Bauch zu halten und sich schützend darüber zu beugen. Vor ihr krachte ein dicker Ast zu Boden. Instinktiv rettete sie sich unter das nächste zur Verfügung stehende Dach: Als sie wieder einen klaren Gedanken fassen konnte, stand sie schon im alten Pavillon, direkt neben der skurrilen Figur. Grübelnd betrachtete sie die Wasserlache, die sich unter ihr bildete. Draußen war es wieder etwas heller geworden, aber es stürmte und regnete noch stärker. Das Wasser verteilte sich auf dem Boden und kroch am Rocksaum von dieser komischen Frauenfigur hoch.

      Tania schüttelte sich, da hatte sie ja gerade nochmal Glück gehabt. Wenn der dicke Ast ihren Kopf getroffen hätte, darüber mochte sie nicht nachdenken. Ihr wurde erst so langsam klar, in welche Gefahr sie sich begeben hatte, nur um diese blöden Aufzeichnungen zu holen. Sie hängte den Beutel, der kaum einen Spritzer abbekommen hatte, an einen rostigen Nagel an der hinteren Wand. Sie selbst merkte, wie ihr die kalte Nässe vom Rücken aus überall hin kroch. Prima Kur für ihren verspannten Nacken.

      Notgedrungen setzte sie sich an die äußerste Kante der Steinbank und starrte in das Unwetter. Angst vor irgendwelchen Mitmenschen, die jetzt im Wald herumstreunten, brauchte sie bei diesem Wetter jedenfalls nicht mehr zu haben. Es war sowieso Quatsch, warum war sie bloß so ängstlich? Es war doch alles eine Frage der Sichtweise. Hier in diesem Pavillon, abgeschirmt durch das Unwetter, fühlte sie sich plötzlich geborgen. Was war sie bloß für eine dumme Kuh, sie hütete Jakobs Meerschwein, seine Bienen und versuchte sonst auch, ihm alles recht zu machen. Und wenn sie mal einen Fehler machte, rannte sie los und versuchte, es wieder gut zu machen. Und feige war sie außerdem. Anstatt auf sein Nachrichten-Bombardement mit Worten zu reagieren, ihm Paroli zu bieten, schwieg sie still vor sich hin. Es reichte jetzt! Wütend schlug sie die flache Hand gegen die Steinmauer. Dabei verrutschte der schwarze Hut ihrer Banknachbarin. Ganz wie es ihre Gewohnheit war, wollte sie ihn wieder zurecht rücken. Mitten in der Bewegung erstarrte sie. Wie blöd war sie eigentlich? Der Hut war sowas von hässlich und unheimlich, der passte nicht an so einen schönen Ort. In hohem Bogen segelte der Hut in den Regen und wurde augenblicklich zu Boden gepeitscht.

      Ohne Kopfbedeckung sah die Figur auch nicht besser aus, Tania betrachtete mit Widerwillen im Halbdunkeln den altmodischen Rock und die geblümte Bluse mit dem weißen Kragen, den man jetzt, da der Hut fehlte, genauer sehen konnte. Die anheimelnde Stimmung war verdorben, ihr kroch wieder ein kalter Schauer über den Rücken. Die Figur sah aber auch so widerlich echt aus. Sie musste die dunklen Gedanken aus ihrem Kopf endlich vertreiben, da half nur eins: Sie startete wieder ihre Taschenlampen-App, richtete den Lichtschein auf das Gesicht der Figur - und erstarrte. Das linke Augenlid hing in angefressenen Fetzen herab und gab den Blick auf ein glasiges, totes Auge frei. Der Unterkiefer hing schief herunter und eine bläuliche, aufgequollene Zunge drängte eine strahlend weiße Prothese aus dem Mund.

      Das Smartphone schlug in die Pfütze auf dem Betonboden, das Licht erlosch.

      Dann rannte Tania los. Quer durch Sträucher und Büsche, riss sich von Brombeerranken los, stieß sich den Kopf an tief hängenden Ästen, musste kurz anhalten, weil sich der Würgreiz nicht mehr unterdrücken ließ und hetzte weiter. Nach einer gefühlten Ewigkeit hörte sie ein Auto, kurze Zeit später sah sie auch die dazu gehörenden Scheinwerfer. Ohne nachzudenken sprang sie aus dem Gebüsch auf die Straße.

      4

      Der junge Kriminalkommissar Patrick Burkhardt knallte die Bürotür lauter hinter sich zu, als es ihm mit seiner gerade sechs Wochen andauernden Amtszeit auf Probe zustand. Seit dem ersten August war er im Amt. Und schon wieder war er mit seinem Vorgesetzten zusammengestoßen, der ihn von Anfang an auf das Abstellgleis geschoben hatte. Dafür gab es keinen Grund, aber Arbeit genug. Warum sollte er gerade heute wieder Innendienst schieben, während es große Unruhe in der Stadt durch die Fehde zweier Großfamilien gab. Alle anderen diensthabenden Kollegen waren mit dieser Sache beschäftigt, oder sie ermittelten in zwei anderen Fällen von Mord oder Totschlag. Er war doch nicht zur Mordkommission gekommen, um sich mit seinen neunundzwanzig Jahren ins Büro verbannen zu lassen.

      Lustlos blätterte er durch den Papierstapel, mit dem er sich heute Abend vergnügen durfte. Es handelte sich um längst abgearbeitete Angaben von Zeugen in alten Fällen, die noch in die Datenbank eingepflegt werden mussten. Die Fälle lagen auf Eis, die Polizei war mit ihrem Latein am Ende. Burkhardt war davon überzeugt, dass jede Schreibkraft seine Tätigkeit übernehmen könnte, damit er Zeit für einen einzigen dieser Altfälle hatte. Seufzend loggte er sich ins System ein und ging in die Teeküche, für diese stupide Arbeit brauchte er mehr als nur eine Tasse Kaffee. Da er sich kaum überwinden konnte anzufangen, blieb er noch eine Weile mit der Dose Energy-Drink aus dem Kühlschrank am Fenster stehen. Der Parkplatz wurde von einigen rechteckigen Leuchten an dünnen, langen Metallpfählen, erleuchtet. Schnell war das Weißblech der Dose in seiner Hand vom ersten feinen Kondenswasser überzogen. Während seine Hand angenehm gekühlt wurde, betrachtete er die großen Pfützen, die das Unwetter auf dem Betonpflaster hinterlassen hatte. Es war mit unerwarteten Regenmengen über Bremen hereingebrochen und urplötzlich wieder verstummt.

      In seiner Bürotür prallte er fast mit seinem Vorgesetzten, Holger Arndt, zusammen. Was wollte der denn schon wieder von ihm.

      »Warum sind Sie nicht an Ihrem Platz, wenn sie im System eingeloggt sind? Das ist gegen die Vorschriften!« Arndts rötlicher Vollbart, der an einen stolzen Wikinger erinnerte, erzitterte.

      Wurde das jetzt Schikane oder bloße Kontrolle?

      Burkhardt sagte vorsichtshalber nichts sondern rieb sich abwartend über das glattrasierte Kinn. Wenn er Spätdienst hatte, rasierte er sich vor Dienstantritt, damit er sich nicht am Ende seiner Schicht in den frühen Morgenstunden wie ein unrasierter Penner fühlte.

      Wie zwei Stiere standen sie sich gegenüber, bis Arndt kurz hervorstieß: »Los, loggen Sie sich wieder aus, Sie müssen nach Oberneuland, dort gibt es wohl eine Leiche.«

      Damit wandte er sich um und verschwand wieder in seinem eigenen Büro.

      »Das war kein Wort zu viel«, ärgerte sich Burkhardt. Er konnte es sich aber gut vorstellen, die Streifenwagen waren wegen überschwemmter Straßen und umgestürzter Bäume im Einsatz, alle Kommissare der Mordkommission mit wichtigen Aufgaben betraut, da schickten sie ihn zu seinem ersten Einsatz alleine los.

      Wie beschrieben stand der VW Golf eines Objektschutz-Unternehmens mit Warnblinklicht auf dem Bürgersteig an der Oberneulander Landstraße vor dem Haus mit der Nummer 51. Die Hausnummer war auch in der Dunkelheit sehr gut zu erkennen, weil die alte Villa mit Strahlern wie ein Baudenkmal beleuchtet war. Auch im parkähnlichen Vorgarten hatten Lichtkünstler ihre Akzente gesetzt, Skulpturen schimmerten dezent violett und die Fontänen im recht üppigen Gartenteich schillerten in Regenbogenfarben. Ein Rettungswagen war noch nicht eingetroffen.

      Burkhardt stieg aus dem Zivilfahrzeug, zog die dunkelbraune hüftlange Lederjacke glatt und ging auf einen kleinen, noch sehr jung wirkenden Mann zu, der jetzt aus dem Golf stieg. Er sah nur zur Hälfte seriös aus, denn zur typischen Cargohose mit Emblem eines Objektschutzunternehmens trug er lediglich ein enges, weißes Muscle-Shirt.

      »Moin, mein Name ist Burkhardt, Kriminalpolizei Bremen«, er hielt seinen Polizeiausweis hoch, »haben Sie die Polizei informiert?«

      Der junge Mann, augenscheinlich südländischer Abstammung, nickte.

      »Ja, mein Name ist Hassan Domoglu, sie kam direkt dort zwischen den Sträuchern hervor.«

      Er deutete den entsetzten, suchenden Blick des Polizeibeamten richtig.

      »Nein, nein, ich konnte rechtzeitig bremsen, sie heißt übrigens Tania Redleffs, sie ist zwar nass und friert, aber ihr ist nichts passiert. Sie sitzt auf dem Beifahrersitz, ich habe ihr meine Uniformjacke und das Hemd gegeben.« Er hob die Schultern. »Sie hat wohl in dem Wäldchen eine Leiche gefunden.«

      Burkhardt