Ein Blick auf die Bienenkästen zeigte ihr, dass wenigstens dort ein emsiges Treiben herrschte, Arbeiterinnen mit gelben Pollenhöschen an den hinteren Beinen kehrten zum Bienenstock zurück und ein leises Summen lag in der Luft. Sie stieß einige Hübe Rauch aus dem Smoker und begann vorsichtig, den Deckel des ersten Bienenkastens ein wenig anzuheben.
Für Mitte September war es noch überraschend warm und angenehm windstill. Nachdem sie mit dem ersten Bienenstaat fertig war, setzte sie sich ein wenig abseits auf den Rest der niedrigen Gartenmauer des angrenzenden Grundstücks, nahm den sperrigen Hut ab und zog auch die Handschuhe aus. Sie musste das Beobachtungsprotokoll akribisch weiterführen, sonst war die monatelange Arbeit umsonst gewesen. Jakob, der Imker und gleichzeitig ihr Freund, hatte sich bestimmt nicht nur aus Interesse bereiterklärt, die Testphase mit den neu gezüchteten Königinnen durchzuführen. Er wollte natürlich auch die Aufwandsentschädigung haben, denn als fast dreißigjähriger Wissenschaftler mit befristeten Teilzeitstellen am Institut für Meeresforschung und an der Universität konnte er zusätzliche Einnahmequellen gut gebrauchen.
Wenn sie an Jakob dachte, beschlichen sie zwiespältige Gefühle. Eigentlich waren sie beide zusammen, schon seit vier Jahren. Er brannte für die Naturwissenschaften. Jakob hatte, im Gegensatz zu ihr selbst, alles genau unter Kontrolle. Dafür bewunderte sie ihn, einerseits. Andererseits merkte sie immer wieder, dass eigentlich kein richtiger Raum für sie in seinem Leben blieb, obwohl er das niemals so sehen würde. Ihm war es außerordentlich wichtig, dass er immer genau wusste, wo sie war und was sie tat. Genauso selbstverständlich schrieb er ihr über Fortschritte bei seinen Meeresforschungen, was sie nur leidlich interessierte. Und es war selbstverständlich für ihn, dass sie seine Aufgaben bei den Bienen weiterführte, wenn er selbst keine Zeit hatte, also fast immer. Jetzt war er seit Wochen mit dem Forschungsschiff in arktischen Gewässern unterwegs, im Dezember wollte er zurückkommen. Ging es nicht um seine Forschungen, dann waren die Bienen das Thema und natürlich erkundigte er sich akribisch, was Tania so tat, mit wem sie sich traf und was sie vorhatte. Selten fragte er, wie es ihr ging. Wie auf Bestellung meldete ihr Smartphone eine eingehende Textnachricht.
»Hab wie geplant meine zweite Versuchsreihe abgeschlossen, bist du gerade bei den Bienen?« Entnervt verdrehte sie ihre Augen. Bevor sie das Handy ohne zu antworten einsteckte, änderte sie die Einstellungen. Jakob konnte nun nicht mehr erkennen, ob sie seine Nachrichten gelesen hatte. Sie beschloss, die nächsten vierundzwanzig Stunden auf keine seiner Nachrichten zu reagieren.
Sie seufzte, zog eine Pappmappe und den Bleistift aus dem Jutebeutel hervor und begann mit den Eintragungen. Zwischendurch atmete sie tief durch und blätterte ungeduldig eine Seite weiter. So etwas lag ihr einfach nicht, sie brauchte einen Beruf, der nicht so kleinkariert war. Gab es überhaupt einen Beruf, der ihr lag? Sie wollte sich jetzt nicht mit solchen Gedanken den schönen Tag verderben. Eigentlich ging es ihr doch gut, sie hatte ihr Auskommen mit verschiedenen Aushilfsjobs, eine eigene kleine Wohnung und eine Beziehung, die ihr zumindest physisch Freiheiten ließ. Was wollte sie eigentlich mehr? Gedankenverloren ließ sie den Blick über die Kuhweide schweifen. Die schwarzgefleckten Kühe standen in einem Pulk zusammen und schienen sich zu unterhalten. Von ihrem Platz auf der Steinmauer aus konnte sie gut in den Pavillon auf dem Nachbargrundstück hineinblicken. Sie stutzte und sah genauer hin, dort saß ja doch jemand drin.
Es dauerte noch fast zwei Stunden, bis sie alle Arbeiten und Eintragungen vorgenommen hatte. Am Ende war sie ziemlich genervt von allem, der Rainfarn war restlos im Smoker verbrannt, sie hatte keinen Rauch mehr für den letzten Bienenstock und die blöden Bienen von diesem Volk waren sowieso viel aggressiver als alle anderen. Dafür sammelten sie aber auch mehr Honig als die anderen vier Völker zusammen, die Waben waren so voll mit Honig, dass es ihr schwer fiel, die Kästen zu heben. Als sie den Deckel oben aufsetzen wollte, krabbelten immer wieder Arbeitsbienen in den Fugen herum, so dass ihr nichts anderes übrig blieb, als den Deckel beherzt zuzudrücken. Das Knacken der platzenden Bienenkörper verursachte ihr eine Gänsehaut. Es war schon eine eigenartige Natur, die Arbeiterinnen eines solchen Volkes trugen alle das gleiche Erbgut in sich, es ließ sich durch Züchtung vorherbestimmen, wie ruhig ein Volk blieb und ob es viel Honig sammelte. Und jede Biene hatte ihre Aufgabe, Individualität gab es in einem funktionierenden Insektenstaat nicht. Irgendwie war es Jakob auch genug, wenn sie richtig funktionierte, so wie es sich für eine gute Freundin gehörte.
Jetzt hatte sie aber wirklich genug von den Bienen, eilig pellte sie sich aus dem Schutzanzug. Ihr Blick wanderte zum Pavillon hinüber, die Person saß immer noch genauso dort wie vorhin. Weit hinten im Pavillon, auf einer Steinbank, den Oberkörper in der Ecke angelehnt. Unter einem schwarzen Hut mit breiter Krempe ringelten sich einige graue Haare hervor. Die Beine der Person waren von einem langen Rock verdeckt, die Hände lagen im Schoß. Irgendwie mutete die Szenerie gespenstisch an, hier unter diesen alten Laubbäumen. Tania schüttelt den Schauer ab, der ihr unwillkürlich über den Rücken gekrochen war und lachte laut auf. Das Lachen klang in ihren eigenen Ohren hohl und leer in dieser Stille. Sie war auf eine dieser skurrilen Puppen hereingefallen. Dort saß eine dieser Figuren, wie sie auch am Wümmedeich vor einem der Häuser auf der Bank saßen. Etwas unheimlich und gruselig sahen diese lebensgroßen Figuren schon aus, ihr Geschmack war es auf alle Fälle nicht.
2
Als sie wieder im Auto saß, war sie irgendwie erleichtert. Diese Einsamkeit und die komische Puppe mit dem breitrandigen schwarzen Hut waren ihr doch mehr aufs Gemüt geschlagen, als sie sich eingestehen wollte.
Sie blickte abwägend auf die Uhr, gleich halb zwei. Ihre Schicht in der Baguetterie begann in einer halben Stunde, viel Zeit blieb nicht mehr, aber noch genug für einen kurzen Zwischenstopp beim Gemüseladen. Sie brauchte jetzt etwas für ihren nervösen Magen.
Tania ließ den Wagen an und fuhr vorsichtig den kleinen Wirtschaftsweg mit den tiefen Schlaglöchern entlang, ihr kleiner Fiat sollte nirgends aufsetzen. Nach kurzer Zeit mündete der Weg in die Landstraße. Im sonnendurchfluteten dörflichen Zentrum Oberneulands hielt sie vor Dani´s Gemüseladen, Inhaberin Daniela Meininger. Sie freute sich immer noch, dass dieses Geschäft trotz eines gut sortierten Supermarkts um die Ecke vor ein paar Jahren eröffnet worden war. Meistens verlief der Verdrängungswettbewerb heute umgekehrt. Das Gebäude selbst stammte mindestens aus den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts, es war viel zu klein für heutige Ansprüche, aber für diesen rustikalen Ein-Personen-Laden schien es genau das Richtige zu sein.
»Mahlzeit, wie gut, dass Sie in der Mittagszeit nicht schließen.« Tania nickte der kräftigen Dani mit den angegrauten, krausen Haaren zu.
»Das ist doch selbstverständlich, mittags kommen viele Kunden, entweder in der Mittagspause oder auf dem Heimweg von Kindergruppe oder Kita mit den Kids.«
Tania verschaffte sich einen Überblick über die Holzkisten und Weidenkörbe mit kleinen, aber knackig und frisch aussehenden Äpfeln und Birnen.
»Das sind alles alte Sorten, die haben noch richtig Geschmack. Und sie kommen alle aus der Region, wie es heute so schön heißt. In diesem Fall kommen sie wirklich von den Bauern aus dem Umland, ich kenne die Obstbäume sozusagen persönlich.«
Tania überlegte, ob sie sich eine Tüte mit Äpfeln zusammenstellen sollte, entschied sich aber letztendlich doch für die verlockenden Karotten. Sie nahm ein Bund aus der Kiste vor ihr und reichte sie der Frau an, die die Ärmel ihres handgestrickten Wollpullovers inzwischen hochgeschoben hatte. Wie hielt sie es überhaupt bei diesem Wetter in einem solchen Pullover aus?
»Sind